Drain Sewer Snake

(Ein kurzer Text, worüber auch immer, obliegt dem Leser zu entscheiden. Ganz nach seiner Façon mag er die Worte wörtlich nehmen, zwischen den Zeilen lesen, den Text überfliegen, das ein flüchtiges Gewebe aus Worten und Bildern erscheint, sich seinen Assoziationen hingeben, den Text als weißes Hintergrundrauschen aufnehmen, um an etwas völlig anderes zu denken, sich über den Text ärgern, weil er von etwas Wichtigerem ablenkt und sich darauf besinnen, was das Herz bewegt, in diesem Moment, nach welchem Bedürfnis das Gemüt ruft und wie sich die Knoten aus den Gedanken kämmen lassen, wie sich die Fühlung zu der inneren Melodie aufnehmen lässt, an der sich der persönliche Kompass orientiert, der einem durch die Wirrnisse der Welt eine Spur aufzeigt.)

Einen Baum müsse ich mir vorstellen. Er hebt seinen rechten Arm, hält mir seine Hand entgegen, als sei er ein Verkehrspolizist, der mich auf einer Kreuzung auffordert, zu warten. Er spreizt die Finger, die in einem schwarzen Gummihandschuh stecken und sagt, das seien die Äste, und jeder der Äste ein Abfluss. Er berührt mit dem linken Zeigefinger die Fingerkuppen seiner rechten Hand, zählt die Abflüsse auf, am Daumen sei die Badewanne, am Zeigefinger das Waschbecken, am Mittelfinger das Klo und am Ringfinger die Spüle angeschlossen. Und das ist der Stamm, der ist verstopft, und er zeigt auf seinen Unterarm. Immer müssen die Bäume für Vergleiche herhalten, denke ich mir. Wäre es nicht angemessener, mehr mit ihnen, als über sie zu sprechen? Vergangenen Mittwoch stellte der Stamm eines Baumes die Fähigkeiten und Interessen dar, stellvertretend übten wir uns in der Vorstellung, unsere Identität gleiche einem Gewächs, einem Baum. Wie es dazu kam? Ich nahm an einem Seminar über biografisches Schreiben teil, weil ich schon die Erfahrung gemacht habe, beim Schreiben in meine Haut hineinzuwachsen, mich vollständiger zu fühlen, mich durch das Schreiben zu vervollständigen, mein Inneres mit der Welt zu verbinden, die mich umgibt, ein atmendes Geflecht aus Gedanken und die Rückstände dieses Atems sind die Worte, Schatten lebendiger Gedanken. Die Übung hieß “Baum des Lebens – gewinne deine Identität und eine Richtung im Leben durch Geschichten”. Vielleicht ist bei mir der Stamm verstopft, denke ich, weil mich die Worte oft links liegen lassen und mich nur die Hoffnung treibt, dass sie sich ab und an zeigen. Vielleicht bin ich verstopft, von all den neuen Eindrücken im Land der begrenzten Unmöglichkeiten. Manchmal mag ich Wortspiele, vielleicht gerade, weil sie keinen Sinn ergeben. Beim Menschen lässt sich natürlich keine “Drain Sewer Snake” zum Einsatz bringen, die der Klempner gerade in das Abflussrohr im Boden einführt und die mit lautem Rütteln versucht, sich einen Weg durch die Verstopfung zu bahnen. Drain Sewer Snake heißt wörtlich übersetzt Abfluss-Abwasser Schlange. Und ich spinne weiter vor mich hin, während ich den Klemptner beobachte: Hier in Chico gibt es scheinbar nicht nur Klapperschlangen, die mit Geräuschen auf sich aufmerksam machen, sondern, auch Drain Sewer Snakes. Und diese kann 40-50 Fuß tief in unser Abflußrohr hineintauchen, wie mir gerade der Abwasserschlangenbeschwörer erklärt.

Er trägt einen roten Sweater, eine blaue Hose und auf dem Kopf ein Baseball-Cap mit dem schwungvollen Schriftzug „Mr. Rooter Plumbing“. Er fragt mich, ob das unsere einzige Toilette sei, und ich bejahe, sehe, dass der Feierabend immer näher rückt. Er wisse nicht, was da unten los sei, sagt er mir, wieso es der Schlange nicht gelänge, das Rohr freizumachen. Da das verstopfte Rohr in erster Linie nicht das Problem des Klempners, sondern unseres ist, nehme ich fachmännisch Anteil an der verstopften Lage und frage ihn, ob er eine Kamera dabei hätte. Er bejaht. Für den Einsatz der Kamera müsse er 200 Dollar extra nehmen, und sehen würde er in diesen trüben Gewässern sowieso nichts.

Der Schlangenbeschwörer seufzt, sagt, er hätte noch eine Idee und rollt die vollautomatisierte aufgewickelte Schlange zurück in sein Auto. Er werde jetzt die manuelle Drain Sewer Snake holen, die habe einen geringeren Durchmesser. Und hilft alles nichts, müssen Bassett und Geoffrey sich ein Katzenklo teilen, und Frances und ich gehen auf das andere. Oder wir schaufeln im Garten eine Kuhle, über die wir uns hocken, nehmen eine mit Wasser gefüllte Weinflasche, die das Bidet ersetzt, oder einfach das Klopapier und nutzen diesen innigen Moment des Loslassens und der Reinigung, um uns mit der Natur zu verbinden.

Geoffrey erinnert mich an ein Zitat des brasilianischen Dichters Fernando Sabino, der in einem seiner Werke schreibt: „My son, everything works out in the end. If it didn’t, it’s because it hasn’t come to an end yet.“

Wie so oft im Leben hilft es, einen anderen Weg einzuschlagen, wenn der gewählte nicht ans Ziel führt. In diesem Fall hat der Schlangenbeschwörer vom Daumen abgelassen, weil das daran angeschlossene Rohr zu viele Biegungen hatte, die die Schlange nicht überwinden konnte und hat für sie stattdessen einen direkteren Zugang zu der Verstopfung über den Zeigefinger gefunden. Wie lese ich mich selbst? Wie finde ich einen Zugang zu mir, zu meinem Wünschen und Wollen, meinen schlummernden oder noch nicht entfalteten Kräften? Das wäre eine mögliche Frage, die der Text eröffnet, je nachdem, welche Lesart ich mir erlaube. So birgt der Prozess des Schreibens durchaus Ähnlichkeiten mit der Arbeit eines Schlangenbeschwörers.

Hinterm Busch, versteckt zwischen Palme und dem duftenden Jasmin wäre doch ein geeigneter Ort, für den Fall die Schlange ist in ihrer Mission das nächste Mal weniger erfolgreich.
,

Leave a comment

Blog at WordPress.com.