Ich trage die Wurzeln auf meinem Rücken wie einen Bettler seine Decke
Wurzeln, wo sind deine Wälder, Nebel, wo dein Horizont? Hinter mir schon keine Felder, unter mir schon Felsengrund.
Wurzeln, wo sind deine Mütter, eure Opfer schwer beschämt, eure Kinder dürre Blätter, die in Träumen niedergebrannt?
Sei nicht ohne, sei bei mir, bin ich schon verloren genug. Reiche mir den Wanderstab her, dass ich weiter kann im Flug.
Wurzeln, wer hat euch verlassen, Wüstenwind, wer peitscht euch fort? Ihr seid die Schwerter, die ich lasse fallen in den Sarg am Ort.
Fremde Gräber, fremde Feste, wie vergess ich euren Klang? War ich einsam, hatt ich Trost, hört ich einen Nachtigallenschlag.
Wurzeln, die ihr mich umfangen, brecht nicht ab, brecht nicht entzwei, wenn die Felsen unterdrücken, wenn der Sturm die Äste biegt.”
Wurzeln, wühlt euch durch das Dunkel, laßt euch nicht vom Sturm entmutigen, bis die Sonne, die ihr tränket, eure Blätter blühen läßt.
Wurzeln, ihr seid die zähen, starken Mütter, die alles Leben neu gebären, aus eurer Tiefe steigt die Kraft, die Wälder wieder aufzurichten.
Die Wurzeln vom mäandernden Fluß unterspült, vielleicht vom Wind zum Wanken und vom eigenen Gewicht zu Fall gebracht, liegt die Grauerle am Rand des Flusses und es steckt immer noch soviel Leben in ihr, daß sie weiter grüne Blätter austreibt und liegend weiterlebt.
“I like this idea,” sagt Hector und kommt auf mich zu. Er hockt sich neben mich, streckt die Arme aus und fotografiert den Little Chico Creek durch die Öffnungen der steinernen Brückenbrüstung. Hector hockt am Brückenrand, auf dem Kopf einen weißen Helm mit zwei schwarzen Helmpuffern gegen die Stöße herabfallender Äste, einer neonfarbenen Warnweste, hellbraunen Hosen und festen Wanderschuhen. Und mitten im Gesicht des Baumputzers prangt markant ein stattlicher schwarzer Schnurrbart. Während er den richtigen Ausschnitt mit dem Bildschirm des Telefons sucht, balanciert er ein wenig auf den Fußballen und lässt sich dabei alle Zeit, die er braucht, damit neben dem Fotografieren das Sehen des Motivs nicht zu kurz kommt. Zum Abschied nennt mir Hector seinen Namen und ich bin überrascht, dass er mir seine kräftige raue Hand reicht.
Radele ich heute am Morgen des 1. Mai durch die Straßen, bekomme ich den Eindruck, alle sind geschäftig, nur haben sie einen Gang herausgenommen. Der Straßenarbeiter plaudert mit dem Briefträger, und niemand lässt sich an diesem windigen und sonnigen 1. Mai aus der Ruhe bringen, der hier in den USA kein Feiertag ist. Seit dem Jahr 1894 wird in den USA immer der erste Montag im September der Tag der Arbeit, der sogenannte “Labor Day”, gefeiert. Es gab verschiedene Gründe, sich gegen den 1. Mai zu entscheiden. Ammos J. Cummings, der den Gesetzesentwurf in den Kongress einbrachte, warb für den Labor Day mit folgenden Worten: “Der Labor Day sollte ein Tag sein, an dem alle Arbeiter, unabhängig von ihrer politischen oder religiösen Überzeugung, zusammenkommen und ihre gemeinsame Sache feiern können. Er sollte nicht mit irgendeiner bestimmten politischen Partei oder Gruppe in Verbindung gebracht werden.” Für den Senator James H. Kyle aus South Dakota standen eher Sicherheitsbedenken und die Angst vor Ideen, die für soziale Gerechtigkeit eintreten, im Vordergrund: “Der 1. Mai ist ein Tag, der in Europa von Anarchisten und Kommunisten gefeiert wird. Es ist ein Tag der Gewalt und des Aufruhrs. Ich bin dagegen, dass wir einen solchen Tag in diesem Land anerkennen.”
Mich weiter auf spekulatives Glatteis begebend, würde ich fast mutmaßen, dass die gewisse Gelassenheit, die mir an diesem 1. Mai im geschäftigen Treiben der Straßenarbeiter, Baumputzer und Briefträger zu begegnen scheint, sich mit Blick auf die vielfältigen kulturellen Hintergründe der Arbeiter erklären lässt. Dass der 1. Mai für viele von ihnen einen besonderen Stellenwert besitzt, ist keine bloße Vermutung. In zahlreichen lateinamerikanischen Ländern ist der 1. Mai ein wichtiger Feiertag, der den 8-Stunden-Tag und andere errungene Rechte von Arbeitnehmern und die damit verbundenen besseren Arbeitsbedingungen würdigt. Nicht ohne Grund wird der Día del Trabajo (Tag der Arbeit) oder Día Internacional de los Trabajadores (Internationaler Tag der Arbeiter) gefeiert. Arbeitnehmerrechte sind nämlich gar nicht so verkehrt. Immer wieder staunen Menschen, die ich treffe, dass in Deutschland gesetzlich festgelegt ist, einem Arbeitnehmer im Krankheitsfall sechs Wochen seinen Lohn bzw. Gehalt weiterzuzahlen, während der Mindestanspruch auf Bezahlung, die dir in Kalifornien im Krankheitsfall zusteht, sich auf drei Tage beläuft. Zwei Wochen krank, und es kann sein, dass du deine Miete hier nicht mehr bezahlen kannst. Oder du nimmst einen Kredit auf, bei wem auch immer. Einen Anspruch auf bezahlten Urlaub gibt es in Kalifornien nicht. Die meisten Unternehmen gestehen einem mindestens fünf Tage zu. Der gesetzlich zugesicherte Mindesturlaub beträgt in Deutschland 20 Tage.
“Puh, ist das eine Hitze hier drin! Hast du gar nichts gemerkt?”, fragt mich Frances. Gerade vom Faculty Meeting zurück, findet sie mich auf der Couch sitzend. Ich habe den 1. Absatz über Hector und den 1. Mai fertig. “Sag mal, ist dir wirklich nicht heiß?”, wundert sie sich. “Nein, ich war in Gedanken versunken.” “Ich sehe doch die Schweißperlen auf deinem Gesicht!”, entgegnet sie. Ich blicke auf das Thermometer. 27°C. Sie schaltet die Klimaanlage ein, die in einem der Fenster hängt und fragt erneut. Skepsis gesellt sich zu ihrem Staunen: “Und du hast wirklich nichts gemerkt? Oder wolltest du einfach Strom sparen?” “Ja, wenn ich mich recht erinnere, war mir schon heiß. Du weißt doch, manchmal drücke ich so etwas einfach weg. “Wie war das Faculty Meeting?” „Darüber will ich jetzt nicht reden. Administrativer Scheiß. Wieso hast du heute so eine strenge Frisur?“ „Ich habe mir zu viel von dem Schaum drauf gemacht.“ „Das Minoxidil ist doch nur für die Kopfhaut.“ „Ja, ich weiß.”, antworte ich. “Jetzt sehe ich ein wenig aus, als käme ich von einem Treffen der Hitlerjugend.“ „Ja genau. So siehst du aus.”, antwortet Frances. “Das geht gar nicht.“ „Nur der Scheitel ist anders rum. Meine Großmutter hat Wert darauf gelegt, dass ich meine Haare niemals von links nach rechts kämme.” “Hä, dann hast du doch gerade einen Hitlerscheitel.” “Nein, das andere links, das vor dem Spiegel rechts ist. Du weißt doch, was ich meine.“ Und ich erinnere mich noch, wie meine Großmutter versuchte, den Lauf der Geschichte zu verändern, ihren vierjährigen Enkel kämmend. „Trotzdem, mach das mal bitte nicht mehr. Gerade jetzt, in diesen Zeiten, wo das mit dem Antisemitismus wieder losgeht.“, sagt Frances. „Wie meinst du das?“, frage ich. „Jetzt sind doch überall die Studentenproteste. Bei uns an der Uni gab es diese Woche auch schon antisemitische Graffiti.“
Ich erzähle Frances, dass ich heute im Park war und den Weg abgegangen bin, auf dem ich gestern meine geliebte Jacke habe liegen lassen. Etwas abseits vom Weg sehe ich im Wald Zelte. Ich gehe vorsichtig durch das Unterholz und fühle mich ein wenig so, als würde ich durch einen fremden Vorgarten schleichen. Vor einem der Zelte treffe ich Iliana, eine junge Frau. Sie ist gar nicht so mißtrauisch und abweisend, wie ich es erwartet habe. Sie wirkt, als sei sie gerade von zu Hause ausgezogen. Ich schätze sie auf Anfang Zwanzig. Auf ihrem Kopf trägt sie ein schwarzes Basecap, auf dem in Regenbogenfarben „Jesus“ steht. Sie sortiert gerade ein paar Kleidungsstücke in eine Kiste. Ich frage sie, ob sie eine blau-rote Trainingsjacke gesehen habe. „We have no lost and found box here in the woods“, antwortet sie mir nüchtern. Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass sie eine glühende Anhängerin von Jesus ist. Sie sei ihm nicht in Kirchen, sondern auf Berggipfeln begegnet. Nicht sie habe ihn gefunden, sondern er sie. Sie habe Gott als Kind gehasst, weil er ihr anders näher gebracht worden wäre, als er wirklich sei. Doch jetzt wüsste sie, dass Gott die Liebe sei. Ihr Leben sei erfüllt, alles, was bisher passiert sei, wäre nicht das gewesen, was Jesus für sie vorgesehen habe. All die materiellen Wünsche, all die Ablenkungen, all das könne sie haben, hätte ihr Jesus gesagt, doch ohne ihn. Eine Weile sei sie Buddha gefolgt, bis er ihr gesagt habe, er sei in Wahrheit Jesus. Und während sie mir von ihrem Suchen und Finden erzählt, bricht sie in Tränen aus. Frances hört sich meinen Bericht geduldig an, während sie auf ihrem Telefon bei Chewy nach einem guten Deal für Katzenfutter sucht. Beiläufig antwortet sie mir: „Meinst du die blau-rote adidas Jacke? Die hängt auf dem Wäscheständer.“
Eine Kolonne von sechs schweren SUVs wirbelt eine riesige Staubwolke auf. Ich warte am Rande des Schotterweges in einer kleinen schattigen Wegesbucht, lasse die in der Sonne glänzenden Metallkarosserien an mir vorüberziehen und halte kurz die Luft an. Die Staubwolke scheint eine Weile regungslos in der Luft zu stehen. Langsam legt sich der Staub, ich gehe noch ein paar Schritte weiter und biege rechts in den Pfad ein, laufe die Böschung hinab und folge dem Yahi Trail, der links des Chico Creeks, entgegen der Fließrichtung verläuft. Ich vertraue mich der buschigen, struppigen, mit einzelnen Grasflächen durchsetzten, holperig unebenen und dennoch üppig grünen Uferlandschaft an. In diesen Pfad bin ich nur zufällig hineingestolpert und die mit meinem alten Mobiltelefon gemachten Fotos in niedriger Auflösung geben kaum eine Ahnung von der saftig grünen Schönheit dieses Uferpfades, der sich in Richtung Upper-Park schlängelt und Ausblicke auf bizarre Felsen ermöglicht, die ganz entfernt an die Böhmische Schweiz erinnern, dem Wochenendwanderziel meiner Dresdner Kindheit.
Die Yahi, nach denen dieser Pfad benannt ist, lebten einst in dieser Gegend. “Ya” bedeutet “Mensch” und “hi” bezeichnet die südlichen Siedlungen. Ishi war der letzte Überlebende des Yahi-Stammes, der letzte der Ureinwohner Kaliforniens. Wer seine Geschichte nachlesen möchte, kann dies auf Wikipedia tun. Ein Großteil seines Stammes wurde ermordet. Mich hat einfach interessiert, was das Wort “Yahi” bedeutet. Als ich über das Schicksal der Yahi las, musste ich kurz schlucken, konnte nicht weiterschreiben und habe nur diesen Link in den Beitrag kopiert. Im Nachhinein habe ich mir überlegt, ob ich ein Spielverderber bin, jemand, der nach einem Makel sucht, wo man sich der Schönheit hingeben könnte. Nach einer Weile sagte ich mir jedoch, dass ich nur meiner Neugier gefolgt bin und lediglich wissen wollte, woher das Wort “Yahi” kommt und was es bedeutet. Einen kurzen Augenblick lang überlegte ich, ob es vergleichbar wäre, wenn ein Kalifornier nach Berlin käme und über den Plötzensee berichten würde, den Badesee meiner vergangenen Berliner Sommer. Dort lag ich im Wasser auf dem Rücken und verlor mich auf dem Wasser treibend im Himmel. Er könnte erzählen, dass es unweit des Sees ein Strafgefängnis gab, in dem zu NS-Zeiten 2800 Menschen ermordet wurden. Und ich bin mir nicht sicher, welche Information wohin gehört. Das ist jedenfalls der Link zu einer kurzen Biografie des Kaliforniers Ishi, der den Yahi angehörte.
Auf einem Baumstamm am Ufer lasse ich mich nieder und blicke auf das Wasser des Flusses. Hinter mir taucht ein junger Mann in Flipflops und Panamahut, blauem T-Shirt und kurzer Hose auf. Ob er mich erschreckt habe, fragt er mich. Er sei nur auf der Jagd. Sein Name sei Drew ohne An. Frösche würde er jagen, nicht zum Essen, sondern für den Teich der Großmutter. “Sieh da ist eine Baby-Schildkröte”, sagt er und zeigt auf das brackige Uferwasser. Ich sehe noch, wie sich eine kleine Schildkröte im Wasser unter braunem Mulch und Blättern versteckt.
Der Yahi Trail führt zu verschiedenen bassinartigen Vertiefungen im Fluss, kleine Becken im Fluss, die bei Jung und Alt beliebt sind zum Entspannen und Baden. Auf dem Weg begegne ich vielen Gruppen von einheimischen Jugendlichen in Badekleidung auf dem Weg zum Parkplatz, oft trägt einer von ihnen eine Box, aus der Musik erklingt. Bewundernd verliere ich mich in der Schönheit des Pfades, beobachte einen Buntspecht, sehe wie eine Eidechse im Schatten am oberen Rande des Hohlweges von einer Wurzel auf eine andere springt. Noch nie habe ich eine Eidechse springen sehen, denke ich mir. Einundvierzig Jahre habe ich gelebt, ohne zu sehen, wie eine Eidechse von einer Wurzel auf die andere springt. Klar, im Fernsehen habe ich sogar Flugdrachen gesehen, doch direkt vor mir und mit eigenen Augen zu sehen. Im Fernsehen, oder auf Insta und ich frage mich, wieso bereiten wir unsere Erlebnisse medial auf? Wieso schreibe ich diesen Blog, der sich in Millionen andere Blogs einreiht, mein Erlebnis einem Ranking unterwirft?Sammeln und begegnen, ist das vielleicht eine Illusion und digital Natives, digitale Jäger und Sammler sein zu wollen einfach eine Ilusion, mit der wir den Riss kitten wollen, zwischen unserer Vernetztheit die uns gleichzeiig von unserem Erleben entfremdet? Auf welche Gedanken einen hüpfende Eidechsen so bringen können! Dieser Pfad birgt wirklich viele kleine Details wuselig-wimmelnden Lebens, die man mit allen Sinnen genießen kann. Ihr Reiz liegt im Erleben des Augenblicks, der verfliegt und mich nur bereichert, wenn ich ihn nicht besitzen will.
vor dem Bildschirm verbringen und die Sinne wieder mit Eindrücken füttern, sie auf Spurensuche schicken. Den Gerüchen, Farben und Klängen des Frühlings möchte ich meine Aufmerksamkeit schenken, Chico ist schließlich die Stadt der Blüten und die Blüten sind Boten des Lebens.
Ist es ein Unterschied, ob wir uns, in dem was wir tun, von der Angst antreiben lassen, Schlimmeres zu verhindern oder ob wir unsere Kraft aus der Zuversicht schöpfen, alles möge einen Sinn ergeben? „Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn macht, egal wie es ausgeht.“, sagte einst Václav Havel.
Blüten und die noch grünen Früchte unseres Meyer-Lemon Bäumchens.
Und ist es möglich, sich nicht von der Angst vor dem Tod, dem Vergessenwerden, antreiben zu lassen? Sich nicht von all dem durch die Tage scheuchen lassen, das wir eh nicht verhindern können, höchsten aufschieben, sondern von der Zuversicht, von der Lust zu leben, uns gegenseitig Augenblicke zu schenken, bis uns der Wimpernschlag der Zeit aus dieser Gegenwart wischt? Verzweiflung, Nicht-weiter-wissen kann die Quelle der Zuversicht sein, doch Angst als Antrieb ist auf Dauer nicht gesund.
Weißer Flieder
„Das Leben ist kein Problem, das gelöst werden muss“, meinte Randy heute zu mir, „sondern ein Rätsel, das immer mehr Fragen aufwirft, je mehr wir wissen und uns mit einem Staunen zurück lässt.“ Und diesem Staunen möchte ich mich überlassen.
Peruanischer Blaustern
Nach meinem Urlaub in der Realität findet ihr mich wieder, in vertrauter Versunkenheit, nur meine virtuelle Anschrift wird sich geändert haben. Ist noch nicht ganz fertig, eine begehbare, lesbare Baustelle. Zu finden unter:
Die Zeichnung hat mich erwischt und ich habe es nicht gemerkt. Sie hätte oft Ausschau nach mir gehalten, meinte Thea, die ich heute erst kennengelernt habe, um sie mir zu zeigen, dem Naked Lounge Man. “Du wirst immer gesehen und wahrgenommen, deine Umwelt ist nicht stumm und blind, selbst wenn du manchmal in dir selbst versunken bist.”, sagte sie. Thea ist eine der Barista im Café Naked Lounge.
(Ein kurzer Text, worüber auch immer, obliegt dem Leser zu entscheiden. Ganz nach seiner Façon mag er die Worte wörtlich nehmen, zwischen den Zeilen lesen, den Text überfliegen, das ein flüchtiges Gewebe aus Worten und Bildern erscheint, sich seinen Assoziationen hingeben, den Text als weißes Hintergrundrauschen aufnehmen, um an etwas völlig anderes zu denken, sich über den Text ärgern, weil er von etwas Wichtigerem ablenkt und sich darauf besinnen, was das Herz bewegt, in diesem Moment, nach welchem Bedürfnis das Gemüt ruft und wie sich die Knoten aus den Gedanken kämmen lassen, wie sich die Fühlung zu der inneren Melodie aufnehmen lässt, an der sich der persönliche Kompass orientiert, der einem durch die Wirrnisse der Welt eine Spur aufzeigt.)
Einen Baum müsse ich mir vorstellen. Er hebt seinen rechten Arm, hält mir seine Hand entgegen, als sei er ein Verkehrspolizist, der mich auf einer Kreuzung auffordert, zu warten. Er spreizt die Finger, die in einem schwarzen Gummihandschuh stecken und sagt, das seien die Äste, und jeder der Äste ein Abfluss. Er berührt mit dem linken Zeigefinger die Fingerkuppen seiner rechten Hand, zählt die Abflüsse auf, am Daumen sei die Badewanne, am Zeigefinger das Waschbecken, am Mittelfinger das Klo und am Ringfinger die Spüle angeschlossen. Und das ist der Stamm, der ist verstopft, und er zeigt auf seinen Unterarm. Immer müssen die Bäume für Vergleiche herhalten, denke ich mir. Wäre es nicht angemessener, mehr mit ihnen, als über sie zu sprechen? Vergangenen Mittwoch stellte der Stamm eines Baumes die Fähigkeiten und Interessen dar, stellvertretend übten wir uns in der Vorstellung, unsere Identität gleiche einem Gewächs, einem Baum. Wie es dazu kam? Ich nahm an einem Seminar über biografisches Schreiben teil, weil ich schon die Erfahrung gemacht habe, beim Schreiben in meine Haut hineinzuwachsen, mich vollständiger zu fühlen, mich durch das Schreiben zu vervollständigen, mein Inneres mit der Welt zu verbinden, die mich umgibt, ein atmendes Geflecht aus Gedanken und die Rückstände dieses Atems sind die Worte, Schatten lebendiger Gedanken. Die Übung hieß “Baum des Lebens – gewinne deine Identität und eine Richtung im Leben durch Geschichten”. Vielleicht ist bei mir der Stamm verstopft, denke ich, weil mich die Worte oft links liegen lassen und mich nur die Hoffnung treibt, dass sie sich ab und an zeigen. Vielleicht bin ich verstopft, von all den neuen Eindrücken im Land der begrenzten Unmöglichkeiten. Manchmal mag ich Wortspiele, vielleicht gerade, weil sie keinen Sinn ergeben. Beim Menschen lässt sich natürlich keine “Drain Sewer Snake” zum Einsatz bringen, die der Klempner gerade in das Abflussrohr im Boden einführt und die mit lautem Rütteln versucht, sich einen Weg durch die Verstopfung zu bahnen. Drain Sewer Snake heißt wörtlich übersetzt Abfluss-Abwasser Schlange. Und ich spinne weiter vor mich hin, während ich den Klemptner beobachte: Hier in Chico gibt es scheinbar nicht nur Klapperschlangen, die mit Geräuschen auf sich aufmerksam machen, sondern, auch Drain Sewer Snakes. Und diese kann 40-50 Fuß tief in unser Abflußrohr hineintauchen, wie mir gerade der Abwasserschlangenbeschwörer erklärt.
Er trägt einen roten Sweater, eine blaue Hose und auf dem Kopf ein Baseball-Cap mit dem schwungvollen Schriftzug „Mr. Rooter Plumbing“. Er fragt mich, ob das unsere einzige Toilette sei, und ich bejahe, sehe, dass der Feierabend immer näher rückt. Er wisse nicht, was da unten los sei, sagt er mir, wieso es der Schlange nicht gelänge, das Rohr freizumachen. Da das verstopfte Rohr in erster Linie nicht das Problem des Klempners, sondern unseres ist, nehme ich fachmännisch Anteil an der verstopften Lage und frage ihn, ob er eine Kamera dabei hätte. Er bejaht. Für den Einsatz der Kamera müsse er 200 Dollar extra nehmen, und sehen würde er in diesen trüben Gewässern sowieso nichts.
Der Schlangenbeschwörer seufzt, sagt, er hätte noch eine Idee und rollt die vollautomatisierte aufgewickelte Schlange zurück in sein Auto. Er werde jetzt die manuelle Drain Sewer Snake holen, die habe einen geringeren Durchmesser. Und hilft alles nichts, müssen Bassett und Geoffrey sich ein Katzenklo teilen, und Frances und ich gehen auf das andere. Oder wir schaufeln im Garten eine Kuhle, über die wir uns hocken, nehmen eine mit Wasser gefüllte Weinflasche, die das Bidet ersetzt, oder einfach das Klopapier und nutzen diesen innigen Moment des Loslassens und der Reinigung, um uns mit der Natur zu verbinden.
Geoffrey erinnert mich an ein Zitat des brasilianischen Dichters Fernando Sabino, der in einem seiner Werke schreibt: „My son, everything works out in the end. If it didn’t, it’s because it hasn’t come to an end yet.“
Wie so oft im Leben hilft es, einen anderen Weg einzuschlagen, wenn der gewählte nicht ans Ziel führt. In diesem Fall hat der Schlangenbeschwörer vom Daumen abgelassen, weil das daran angeschlossene Rohr zu viele Biegungen hatte, die die Schlange nicht überwinden konnte und hat für sie stattdessen einen direkteren Zugang zu der Verstopfung über den Zeigefinger gefunden. Wie lese ich mich selbst? Wie finde ich einen Zugang zu mir, zu meinem Wünschen und Wollen, meinen schlummernden oder noch nicht entfalteten Kräften? Das wäre eine mögliche Frage, die der Text eröffnet, je nachdem, welche Lesart ich mir erlaube. So birgt der Prozess des Schreibens durchaus Ähnlichkeiten mit der Arbeit eines Schlangenbeschwörers.
Hinterm Busch, versteckt zwischen Palme und dem duftenden Jasmin wäre doch ein geeigneter Ort, für den Fall die Schlange ist in ihrer Mission das nächste Mal weniger erfolgreich.
Wenn meinen Worten die Silben ausfallen vor Müdigkeit und auf der Schreibmaschine die dummen Fehler beginnen wenn ich einschlafen will
und nicht mehr wachen zur täglichen Trauer um das was geschieht in der Welt
und was ich nicht verhindern kann
beginnt da und dort ein Wort sich zu putzen und leise zu summen und ein halber Gedanke kämmt sich und sucht einen andern
der vielleicht eben noch an etwas gewürgt hat was er nicht schlucken konnte
doch jetzt sich umsieht und den halben Gedanken an der Hand nimmt und sagt zu ihm:
Komm
Und dann fliegen einige von den müden Worten und einige Tippfehler die über sich selber lachen mit oder ohne die halben und ganzen Gedanken aus dem Londoner Elend über Meer und Flachland und Berge immer wieder hinüber zur selben Stelle
Und morgens wenn du die Stufen hinuntergehst durch den Garten und stehenbleibst und aufmerksam wirst und hinsiehst kannst du sie sitzen sehen oder auch flattern hören
ein wenig verfroren und vielleicht noch ein wenig verloren und immer ganz dumm vor Glück daß sie wirklich bei dir sind
Strand Silberkraut (Lobularia maritima), wächst hinten im Garten , auf dem kleinen Beet unterm Fenster. War mal in einer Tüte, das Samenkorn, bevor’s in die Erde kam.
The bridge on which Highway 99 crosses Bidwell Park was completed in 1965. From 2011 to 2014, a third lane was added.
I think just accept your own struggles. I stop under the freeway bridge for a little break. Above me, cars rumble along the road in an asymmetrical rhythm. A bird flies amidst the arrows beneath the bridge, perhaps in pursuit of insects, while the wind blows up dirt from the ground. The cars roll over me. Between us, only concrete and a space of air. While the wave of traffic noise rolls over me, I think by myself, accepting each of them, even the little struggles. They connect you to your life. Your struggles are like roots longing for nutrients and water. If you accept your struggles, perhaps you’ll feel less isolated. A jogger is passing beneath the bridge, singing along to the tune playing in his headphones. Beauty lies in the eye of the beholder. You don’t need someone else to say that your life is beautiful. Someone else can say if you have a hair in your nose or a spot on your pants, but not if your life is beautiful or not. Just try to care for yourself and others. Normal is just a statistical figure. Do not struggle too much to be normal, to fit in. You don’t need to fit. You’re not a sneaker, right? You’re marvelous.
As is well known, umbrellas protect not only from rain but also from unwanted gazes.
The Laughing Heart (Charles Bukowski)
your life is your life don’t let it be clubbed into dank submission. be on the watch. there are ways out. there is a light somewhere. it may not be much light but it beats the darkness. be on the watch. the gods will offer you chances. know them. take them. you can’t beat death but you can beat death in life, sometimes. and the more often you learn to do it, the more light there will be. your life is your life. know it while you have it. you are marvelous the gods wait to delight in you.
Auf dem Weg zum Table Mountain führt unsere Strecke durch eine weite offene Landschaft, die von lauter riesigen begrünten Maulwurfshügeln durchsetzt zu sein scheint. Die Maulwurfshügel nennen sich Buttes. Unser County, der “Bezirk”, in dem wir wohnen, ist nach diesen riesigen Maulwurfshügeln benannt. Die Hauptstadt von Butte County ist Oroville. Das deutsche Wort für Butte wäre Härtling. Für Behördenkram müssen wir manchmal von Chico nach Oroville fahren.
Und unser Ziel, das “North Table Mountain Ecological Reserve”, ist in etwa eine halbe Autostunde von uns entfernt. Wir fahren nicht einmal lang genug auf dem Freeway, um die zehn Minuten einzuhalten, die zehn Minuten, die wir genau zwischen 55 und 60 Meilen in der Stunde fahren sollen, um den Re-check, den zweiten Versuch des vorgeschriebenen Smogtestes zu bestehen. Also nicht wir, sondern unser alter Honda-Accord aus dem Jahr 1997. Er ist beim ersten Test durchgefallen, und wir sollen und wollen ihn für den nächsten Versuch ein wenig vorbereiten. Für jemanden wie mich, der nichts von Motoren und Abgastests versteht, ist diese Skizze, die der Herr Smog Inspektor für uns angefertigt hat, nicht so leicht zu lesen.
Nach einer Fahrt durch offene Landschaft biegen wir in die Cherokee Road ein, auf der unser Honda rauf auf den Tafelberg klettert und an manchen Stellen einem recht engen und kurvigen Straßenverlauf folgen muss. Enge Serpentinen durch felsiges Gelände lassen die Aufmerksamkeit auf dem Verlauf der Straße kleben. Jedem Versuch, einen Blick auf die Schönheit der an manchen Stellen mediteran anmutenden Landschaft und Vegetation zu erhaschen, folgt ein Herzklopfen.
Mit dem Auto in einer halbe Stunde von uns zu Hause erreichbar, bräuchten wir für die Strecke zu Fuß ganze neun Stunden. Wär´ schon gut, wenn das mit dem Abgastest klappt. Ich frage mich, ob die Cherokee Road nach den Cherokee benannt ist. Auf unserer Fahrt kommen wir an einer Ruine und einem recht großen Friedhof vorbei, der den Eindruck vermittelt, dass hier mal mehr los gewesen sein muss, als die einzelnen, versprengt am Wegesrand stehenden Häuser vermuten lassen. Und tatsächlich, nachdem die Spanier hier bereits 1818 Gold fanden, kommen im Jahr 1849 Minenarbeiter der Cherokee aus Oklahoma in das Gebiet, in dem ursprünglich die Maidu siedelten. Vier Jahre später tauchen walisische Minenarbeiter auf und gründen den Ort Cherokee, den sie nach den Minenarbeitern der Cherokee benennen. In Zeiten des Goldrausches floriert der Ort, über 300 Minenarbeiter schuften Tag und Nacht, erwirtschaften über 15 Millionen Dollar in der weltweit größten hydraulischen Goldmine, die den freundlichen Namen Spring Valley trägt. Die Mine umfasst 10521,827 Hektar Land, 160km Tunnel und Kanäle, 14,5 Meilen an Schleusen und 11 Stauseen. Der Ort selbst bekommt die ersten Häuser mit fließendem Wasser im gesamten County. 1875 leben hier genügend Menschen in und um Cherokee, um ein Theater, eine Rennstrecke und eine Brauerei, 2 Kirchen, 3 Logen, 8 Hotels und 17 Saloons mit Leben zu füllen. Die Ruine, die wir sehen, mit ihren nackten, marodierenden Mauern ohne Dach, ist das ehemalige Assay Büro. In einem Assay Büro wird die Qualität der geförderten Edelmetalle geprüft und ihr Wert bestimmt. Die Ruine zeugt von der längst vergangenen kurzen Blüte dieses Goldgräberortes, den 1947 ein Feuer zerstört. Und ich habe mich gewundert, wieso’ s hier so weit ab vom Schuß eine Siedlung gibt.
Endlich angekommen, darf das Auge schwelgend umherschweifen und den Anblick der Weite und der Blümchen genießen.
Im Gegensatz zu den Kühen, deren einzige Kommunikation mit uns aus großen Fladen besteht, quaken die Frösche an diesem Bächlein aus Leibeskräften im Chor.
Nach einer kleinen Runde über den hügeligen Rücken des großen Klumpens aus Vulkangestein lassen wir uns gegenüber eines Wasserfalles nieder und tafeln auf dem Tafelberg, kein Osterlamm, sondern eine leckere vollmundige Banane auf und genießen das Licht und das Rauschen des Wassers, das sich in die felsige Schlucht ergießt.
Auf dem Rückweg in der Dämmerung sehen wir drei Vögel auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, deren Siloutten ein wenig an Hühner erinnern. Es sind drei Truthahn-geier die sich an einem toten Waschbärkadaver laben. Langsam fahren wir weiter und überlegen, was wir uns wohl noch zum Abendbrot gönnen werden.
“Life is something which happens while you are waiting for something else.” Allen Saunders
Etwas vorhersehen, wissen wollen, wie eine Situation sich gestalten, wie ein Mensch reagieren wird, etwas sehen, bevor man es gesehen hat. Vorher sehen, ist das möglich?
Fresie
Das Morgenlicht verfängt sich in den weißen Blütenblättern der Fresie, die in der kleinen Vase auf dem Bord über der Spüle steht und bringt die Blüten zum Leuchten. Ist es möglich, dass ich mich manchmal von der Illusion verwöhnen lasse, den Moment festhalten zu können, den Wandel des Lichtes am Morgen? Schildbürger 2.0? Das Morgenlicht lässt sich nicht besitzen, es offenbart uns seine Welt und mir bleibt nur, sie zu genießen. Streite dich heute nicht, wem der Augenblick gehört, sage ich mir und trockne mit dem Geschirrtuch eine Kaffeetasse ab. Wir gehören dem Augenblick und all das Gezerre um Aufmerksamkeit, wozu?
Atlantisches Hasenglöckchen
Manche haben verlernt, mit sich selbst abzuhängen, andere hängen zu lange mit sich selber ab und haben vergessen wie besonders sie sind und wie man den Sender im Kopf umstellt, das Programm ändert. Am Grunde meiner Seele schlummert Humor, ein großes sanftes Tier, das mich bewacht, wieso nicht einmal dieses Tier eine Sendung moderieren lassen?
Rosmarin
“You do what you love…, or you get arrested!”* Deine Wahl ist, einzusehen, dass du keine Wahl hast. So lange du wegläufst, bist du ein Gefangener deiner Flucht. Trau dir über den Weg. Bist du an deiner Seite, wirst du nicht nur dem Menschen in dir treu sein. Sei ein Grenzgänger. Entdecke dich da draußen in dir. Und kümmere dich endlich um den Garten.