Ein nach vorn gleitendes Schwingen seines Armes, ein Schnippen seiner dunklen, langen Finger. Effi lässt eine Münze kreiseln. Dann noch eine.
“Wir alle tanzen. Wir alle drücken uns aus. Du drückst dich aus. Lerne dich lesen. Rot und Schwarz sind bei uns Yoruba die Farben der Freiheit. Du bist heute rot und schwarz gekleidet. Nimm dir die Freiheit zu sehen. Überall ist Magie im Alltag. Die wenigsten sehen sie, oder besser, die meisten ignorieren sie.”
Seine Ellenbogen auf dem hölzernen Tresen, stützt er sein Kinn auf seine Fäuste und schaut den glänzenden Münzen bei ihrem Tanz zu, kleine um sich selbst drehende Derwische.
Dieser Bildhintergrund fängt mich immer wieder ein, drängt sich in mein Leben, schiebt sich zwischen mich und meine Vergangenheit, wie der Rainberg sich zwischen 6500 Jahre Salzburger Geschichte schiebt und die Menschenopfer ruhen lässt, die die Kelten den Göttern gewohnt waren darzubieten, so fordert der Altar der Zeit, dass wir ihm unser Leben anvertrauen. “Wie und wer werden wir sein, wenn wir alt sind. Werden wir behutsam und geduldig für uns sorgen. Werden wir unserer Eitelkeit überdrüssig und unseren Stolz bewahren? Wer weiß das schon? Keiner wird es, dir verraten. Du musst schon durchhalten, bis zum Schluss. Und vielleicht erlaubt sich ein agnostischer Gott am Ende einen Spass, dreht die selbstbestimmten, aus menschlichem Irrtum geschöpften Rollen um und die trostlos zufriedenen Ungläubigen werden am Firmament der Ewigkeit strahlen, zeitlos, erloschenes Licht, dass sich selbst den Weg leuchten wird.”
Sprach der Trinker zu seinem eingebildeten Gegenüber. Sprach´s und hörte ein: “Wie bitte?´” Versuchte sich im Rausch des Alkohols, noch im Bann der eigenen Worte, an diese zu erinnern, doch sein eigenes Gedächtnis spu(c)kte ihn aus und da saß er nun, zwischen all den Fremden im Biergarten und redete ein, auf diesen leeren Stuhl, versuchte sich gestikulierend von der Bedeutungslosigkeit seiner Worte zu befreien, den gekrümmten Körper am Geist des verstorbenen Gefährten aufzurichten, doch es half alles nichts, er war gefangen in der Leere vertaner Zeit. “Glaub´ mir, das ist nicht lustig.”, sagte Daniel sanft, mit ernstem Blick, seine Mundwinkel noch umspielt vom Lächeln seines Freundes, mit dem er gemeinsam, die Szenerie beobachtete.
Nur wann und wo ist Ankommen? Der Weg vom Bahnhof schien länger als die gesamte Reise. Ankommen ist unterwegs (sein ist niemals ein Punkt). Aufgewacht bin ich mit einem Traumbild unter den Lidern, die Berge im Morgenlicht.
Sternenspreu und Schattenwind, sich wiedersehen ist Vergessen und Erinnern zugleich. Wer braucht Vergebung? Wir sind die Gäste zukünftiger Zeiten und manchmal laden wir die Vergangenheit ein, einen Moment mit uns zu teilen.
Luna wollten sie einschläfern. Luna ist eine schwarzes Bullterriermädchen. Sie wollte nicht beißen. Selbst nach Messerstichen. So ein Vieh können sie nicht gebrauchen, was nicht beißen will. Bei den Hundekämpfen geht es um viel Geld. Sowas steht nicht in der Bild Zeitung. Darum bestand die Schaffnerin auf den Maulkorb, zeigte den Beförderungspassus auf ihrem Bildschirm und sagte, man wüßte nie. Vielleicht müsse der Zug mal bremsen und dann? Luna schaute Marco hinterher, wenn er auf’s Zugkloh rauchen ging und ich schaute Lunas, den weißen Fleck auf ihrer Schnauze, das schneeweiße Tal zwischen den Schädelhöckern und hielt ihre Leine kurz, während sie neugierig umherschaute.
Den Deckel von der Kaffekanne müsse ich nur leicht drehen, meinte mein Bruder. Jetzt hätte ich ja genügend Zeit, das zu lernen. Wo ist der Schlüssel? Nicht in der Jackentasche, nicht auf dem Küchentisch, aber dahinten, gleich hinter der Milchstraße, bei dem großen intergalaktischen Ameisenhügel, wurde er gesichtet. Aber vielleicht brauche ich ihn gar nicht. Wer weiß?
Es tut gut, gemeinsame Momente zu teilen, in dieser kleinen Stadt, wo wir alle nicht daheim sind, eine verbindende Vertrautheit in der Fremde. Besser ein Fremder in der Fremde sein, als fremd Daheim. Und überhaupt, mal weg zu gehen und sich durch andere Menschen und eine andere Umgebung neu zu erfahren. Von der Suche beseelt und nicht von Gewohnheiten und dem Ballast der Herkunft beschwert.
Bei meinem Abschied aus Dresden habe ich meine Bücher verteilt, bei Freunden. Kleine Proviantlager, geistige Inseln, verbindende Anker für eine mögliche Rückkehr in den heimatlichen Hafen, dessen Strahlungskraft durch den Dunst der Zeit und die Entfernung schon ein wenig verloren hat. Und ich hocke nun in diesem Provisorium, ohne Erwartungssicherheit, in diesem romantischen Traum, der mich von einem Tag auf den anderen wieder aussetzen kann. In diesem Efeu überwachsenen Betonbunker, mit dem verstimmten Klavier, auf dem ich versuche, die schief klingenden Harmonien meiner Erinnerungen zu erspüren und lerne sie zu aktzeptieren.
Morgens stehe ich gegen viertel nach fünf auf und fahre die Moosstraße Richtung Untersberg. Falle aus dem Bett und schwebe auf den Gesängen der Vögel durch die Baumwipfel. Manchmal glüht der Untersberg bronzefarben, manchmal sind seine felsigen, noch im Frühling verschneiten Wände von Wolken umhüllt. Jeder Morgen ist anders, lässt mich in die Stimmung des Tages tauchen, die so angenehm anders ist als meine und dem Tag seine ganz eigene Färbung gibt. Und dann biege ich links ein, zu den Perdeställen, höre es drinnen schon schnaupen, sehen den Kutscher mit seinem Morgenkaffee und seiner gewuzelten Chic ins Morgenlicht blinzeln, betrete den Stall, wo die Pferde schon mit den Hufen scharren und an der Kette reißen und über mir pfeifen die schwalben munter, und wendig an den gekalkten Mauern entlang.
Und ich miste ihren Stall aus und ihnen ist egal, ob ich morgens etwas verschwiegen bin und noch meinen Gedanken nachhänge, beim durchbeiteln des Strohs auf dem Heuboden, oder wenn ich ihren Mist mit der Schiebetruhe nach draußen fahre, wo er in den grünen Morgen dampft.
Und jetzt bin ich gerade durch die rauschende Stille des Regens spaziert um Dir zu schreiben, sitze im Schein des Lampenschirms, in den kleinen engen Gewölben dieser alten Buchhandlung, zu der ich den Schlüssel habe und genieße die Stille des Abends. Neulich öffnete eine alte Frau die quietschende Tür zu diesem alten Laden und sagte, schon vor siebzig Jahren, noch als kleines Kind, sei sie häufig hier auf der Bergstraße gewesen. Und da gab es auch schon einen jungen Buchhändler, der hätte ihr ein Buch geschenkt, mit Piraten, die die Weltmeere unsicher machen. Ein Laden, von dem du nicht weißt, ob du ihn wieder findest, wenn du ihn verlässt. Und so fühlt sich gerade auch mein Leben an, wie ein romantischer Traum, der verweht, wenn ich ihn verlasse und in das kaputte Grau von Dresdens Mythos zurück kehre, der sich durch wackelige Kulissen seiner Identität gewahr werden will.
Strahlend blauer Himmel, weiße, wolkige Luftschiffe die sich zu einem Wetterumbruch zusammenrotten, sich in einem wirbelnden Schneegestöber entladen, das mich hinaus treibt, vor den Laden, die Kartenständer mit den Ansichtskarten der alten Bischofsstadt und die Kisten hereinzuholen und die Bücher wollen schnell trocken gewischt sein, bevor ihre Seiten Wellen schlagen. Kunden fluten vorbei, manchmal fühle ich mich wie in der Sesamstraße und manchmal gibt es berührende Begegnungen; ein Arbeitsloser Sozialarbeiter aus Manchester dem ich zehn Prozent Rabatt gewähre, braucht ja keiner wissen, ein fast blindes Mütterchen, das sich von mir für ihre Freundin Glückwünsche in eine frisch erstandene Geburtstagskarte schreiben lässt, eine empörte Italienerin, die mir ein von mir falsch ans sie verschickte Buch entgegenhält, mit dem Titel “Humor ist, wenn man trotzdem lacht.”, ihr Mann sei vor zwei Wochen gestorben und ich entschuldige mich bei ihr, wußte ich das doch nicht und die Verwechslung sei rein zufällig, genauso wie das Schicksal, das sich selten an moralische oder mathematische Gesetzmäßigkeiten hält.
Auf dem Heimweg ermahnen mich spiegelglatte Straßen zur Vorsicht, am Straßenrand zuckt ein Pferd zusammen, als die Maschine des Feuerwehrkrans anspringt, dessen Seil und die daran befestigten Gurte seinen Gefährten wieder aufrichten. Pferde sind nun mal keine Schlittschuhläufer, das wird der Kutscher der den Gestrauchelten beruhigt, jetzt festgestellt haben.
Momentan ist keine Zeit fürs Studieren, da ich 40h in der Woche im Buchladen stehe, ein Viertel meines Monatslohnes, sprich eine Woche lang arbeite ich für mein Dach über dem Kopf, die immer noch nicht getilgten Schulden fordern auch ihren Teil. Vergangene Woche hat die Sparkasse Dresden mein Konto gekündigt, zum Glück habe ich immer noch eines in Österreich. Meine Stelle ist befristet und ob ich nach dem Weihnachtsgeschäft noch gebraucht werde, kann ich nicht sagen. Atmen und Yoga hält mich ein klein wenig im Gleichgewicht, ansonsten tingel ich zwischen Hinz und Kunz in einer Randomreise nach Jerusalem durch meine Tage und was mich erwartet, hinter der Hoffnung, werde ich sehen.
Die Eile zerstreut die Worte manchmal ein wenig, doch bieten sie hoffentlich genügend Sinn auf dem das lesendes Auge wandelnd den Gedanken folgen kann…
„Du Arsch!“, hätte sie ihm auf facebook geschrieben, weil, irgendwo müsse sie ja das Gift lassen, das ihr täglich gegeben würde. “Du Arsch!” und Schluß. Inzwischen ist es ganz ruhig hier. Nur das leise Rauschen der Lautsprecher hier drinnen. Draußen, hinter der Glasscheibe gedämpft, murren die nassen Reifen auf dem Asphalt. Das höre ich nur. Schaue ich aus dem Fenster, bildet der Rasen einen grünen Hügel, über dem Hügel spannt sich bogenförmig der Weg.
Die linke Hälfte des Hügels wird von einem Nußbaum überragt. Dieser Baum scheint die einzige Verbindung zwischen Himmel und Hölle zu sein. Fallen im Herbst die reifen Nüsse auf unseren Hügel versammeln sich vor dem Fenster unzählige kleine Engelchen und Teufelchen, die sich gegenseitig mit Nüssen bewerfen. Das bereitet Großmutter Lore meist ein wenig Kummer, will sie doch einen schönen Nußkuchen backen und das Einsetzen einer neuen Fensterscheibe, was das wieder kostet.
„Du Arsch“, das wäre ihr Happy End, hat sie zu mir gesagt. „Hast du schonmal russisches Roulette gespielt, Georg?“, fragte sie mich gestern Abend in der Küche, während wir gemeinsam Wildreis mit Bratgemüse löffelten. „Ich hab das mal gemacht. Da war dieser Typ und der hat mich gefragt, traust du dich? Und ich hab gesagt: Klar, lass uns auf den Friedhof gehen. Und ich habe mir den Lauf an die Schläfe gedrückt und: Klick. So ungefähr fühle ich mich jetzt. Weißt du was ich meine?“ Das war damals, während sie noch in Petersburg studierte. Und ich löffelte meinen Bratreis und dachte, das würde schon vorübergehen.
Jetzt ist sie fort. Einfach so aus der Haustüre. Vorbei an den Fahrrädern, vorbei an der verblühenden Wolke aus wilden, violetten Krokussen, vorbei am Walnussbaum, vorbei am Tor des alten, längst verschollenen Gartens und als sie die Kuppe des Hügel erreichte, dort wo die Schaukel steht, blickte ich ihr noch einmal nach und bemerkte, ihre Tasche ist voller als wenn sie nur in die Stadt will. Jetzt ist sie fort, das Mädchen von den sibirischen Erdölfeldern, mit Waldameisen im blondierten Haar. Und das unglaublichste an dieser Geschichte ist, sie ist wahr. Genauso wirklich, wie die Amsel, die gerade ihre Zehen um den Rand des Wasserfasses krallt, sich vorn überbeugt, den Schnabel eintaucht, den Kopf in die Höhe streckt und das frische Regenquell hinunter rinnen lässt. Und ich wünschte mir, ich könnte einfach so gehen, einfach so.
„Die alte Schreckschraube ist wirklich nicht mehr ganz dicht.“ Jens stand in einer Kabine der Schülertoilette und wickelte eine Klopapierrolle in das Klosettbecken ab. „Nichts hat die olle Trulla gerafft.“ Er äffte die schrille Nuschelstimme von Frau Krautwickel nach, der Lehrerin für Kunsterziehung. „Was soll das werden, Jens Göpel? Die Aufgabenstellung wurde von mir klar und deutlich vorgegeben: Weihnachtsbasteleien für meine Familie. Warum tanzt du aus der Reihe? Nimm dir ein Beispiel an deinem Banknachbarn.“ Dieser hieß Lutz und trennte gerade mit einem Cutter Flächen für Gewänder und Köpfe aus dem Fotokarton, auf den er zuvor mit Bleistift und Schablone die Umrisslinien der Heiligen Familie übertragen hatte. Anschließend würde er farbiges Transparentpapier in die ausgelassenen Stellen kleben. Es war sein vierter Leuchtbogen mit der Grippenszene, diesmal für Onkel Heinz Werner und Tante Elfriede. „Und du Jens, willst tatsächlich deinen Eltern diese Vogelscheuche vorsetzen? Na, du wirst schon sehen, was du davon hast. Das wird eine schöne Bescherung geben.“ Jens und seine Schöpfung, die auf dem Spülkasten hockte, musterten sich gegenseitig von Kopf bis Fuß. Der eine verwundert darüber, dass der andere weiterhin Fahnen von Klopapier von der Trommel spulte, der andere kritisch, wie man eben seine Schöpfung prüft. Der Kopf der Vogelscheuche, um Frau Krautwickels Ausdruck zu gebrauchen, formte ein grün-weiß kariertes Knäuel aus einem Tischlappen. In dem dünnen, von Tapetenkleister zusammengehaltenen Stoff, spickten zwei Reißzwecken, ein Augenpaar, umrandet von einem Brillengestell aus Draht. „Das passt schon“, stellte Jens fest. „Opa reparierte alles mit Draht, die abgebrochenen Brillenbügel, und auch seine Schuhe flickte er damit.“ Den Körper, einen Schuhkarton, hatte Jens mit einem grauen Fetzen aus Seide eingekleidet. „Bei meinem letzten Besuch trug Opa immer noch sein zwanzig Jahre altes Jackett.“ Jens betrachtete bewundernd sein Werk, da hallte in seinen Gehörgängen das höhnische Echo von Frau Krautwickels Nörgelei. „Soll dieser scheußliche Lamettawedel die Frisur darstellen?“ Der Lamettawedel schmückte einen Eisbecher, zu dem ihn sein Großvater letzten Sommer in seinen Keller einlud. Aus Scham vor Oma Inge, hatte sich Opa Günter in den nach feuchtem Holz und Putz riechenden Winkel zurückgezogen. Er schämte sich seiner Gebrechen, denn das Alter nistete in den Knochen und spielte seinen üblen Schabernack. Oma nahm es leichter. Einmal führte sie Jens amüsiert das Quietschen ihres künstlichen Kniegelenkes vor. Als er wieder einmal ihr Gebiss suchte, das sie an den unmöglichsten Orten verlegte, schmunzelte sie und sagte: „Jens du bist mein einziger Kontaktmann zum hier und heute.“ Ihre Erinnerung sei zu ihrer Gegenwart geworden, dort lebe sie jetzt mit Opa und es sei wunderschön, ohne Schmerz und Verbitterung. Jens schnappte Opa Günter und verließ stumm das Klassenzimmer. Frau Krautwickel plapperte noch etwas von „Nachspiel“ und seine Eltern hätten ihn besser noch ein Jahr zurückstellen lassen sollen. Was dieses straßenköderblonde Zausellöckchen erzählte, war ihm ziemlich gleichgültig. Nur als ihm sein Banknachbar Lutz hinterher zischte : „Nur rumgeschludert, nie bringst du etwas zu Ende. Deinem Kasper fehlt sogar der Mund.“, zuckte er unmerklich zusammen und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken herunter.
Das Nasenklauspiel war ihm vertraut. Opa klemmte mit Zeige- und Mittelfinger seine Nase ein, tat so, als ob er sie ihm abzwacke, und steckte seine Daumennase zwischen die beiden Finger. Entnasen war nur ein Spiel gewesen. Er drückte die Taste des gründlich verstopften Spülbeckens und dachte sich: „Wenigstens habe ich den Klugscheißer Lutz heute in der Mittagspause ordentlich eingeseift, da hat er die Vorspeise seiner Abreibung schon weg.“ Jens drückte die Taste des Spülbeckens so oft, bis das Becken überlief. Dann verließ er mit Opa Günter die Schule und schlenderte durch die Straßen. Sein Weg führte an der Friedhofsmauer vorbei. An einem Ostern, er war vielleicht drei oder vier Jahre alt, suchte er Ostereier in dem kleinen Streichelzoo, neben dem großen Komposthaufen, am Rande des Friedhofes. Der Friedhofswärter mochte es nicht, dass sich die Kinder an den Gräbern langweilen, während die Erwachsenen ihren Gesichtern Trauergrimassen abzwangen. Gern würde er seine Großeltern besuchen. Jedes Mal, wenn er seine Eltern darum bat, wurde er abgewimmelt. : „Jens, Oma und Opa haben eine ansteckende Krankheit. Sie bekommen Medikamente.“
„…bis das der Tod uns scheidet.“ Opa Günter begleitete 37 Jahre lang die Stimme seiner Frau Inge am Klavier bis irgendwann die Musik in seinem Herzen verstummte. Seit zwei Wochen befand sich das Ehepaar Göpel in einem Krankenhaus und wartete auf einen Platz im Pflegeheim. Als Günter noch ein kleiner Junge war, träumte er oft, ein nie enden wollendes Treppengeländer hinunter zu rutschen, bis er das Gleichgewicht verlor und ins Bodenlose fiel. Fanden ihn seine Eltern neben dem Bett auf dem Boden schlafend, hoben sie ihn behutsam zurück auf die Matratze und deckten ihn wieder zu. Nun kauerte der alte Herr Göpel, zu einem wimmernden Häuflein gekrümmt, auf dem kalten Linoleumfußboden vor seinem Bett. Immer und immer wieder versuchte er seinen bandagierten Kopf, den mit blauen Flecken und Schürfungen lädierten Körper zu heben. Vergebens, die Kraft in den alten Gliedern reichte nicht aus. Frau Göpel war von dem Aufprall ihres Mannes aus ihrem unruhigen Dämmerschlaf aufgeschreckt worden. Ihr verzweifelter Ruf, aus dem Dunkel ihres Doppelzimmers, der nach der Krankenschwester verlangte, verklang ungehört in den Gängen der Station zwei.
Frau Göpel machte sich also auf den Weg, die Schwester zu suchen. Sie tappte, sich mit ihrer rechten Hand an der Stützstange haltend, welche waagerecht in Hüfthöhe an der Wand befestigt war, den spärlich von einer Notbeleuchtung erhellten Korridor entlang. Sie hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Ihre Gedanken rissen ab. Ziellos, gleich einer Schildkröte, die ihren Panzer, an der Scheibe ihres Terrariums streift, schob sie ihren Körper vorwärts. An der Glastür zum hinteren Treppenaufgang presste sie ihren Schädel gegen die Scheibe und blickte ins Treppenhaus. Während sie verschnaufte, huschte der Schatten einer Katze über die Treppen und kam auf sie zu. Im Alter von fünf Jahren stromerte die schüchterne Inge Göpel gern mit Moorle durch die Gärten, bis die Katze an einem schwülen Nachkriegstag von einem hungrigen Dachdecker erschlagen und dann nach Feierabend verspeist wurde. „Grüß dich Moorle, du schnurrst so elektrisiert, hältst dein Köpfchen schräg und blinzelst mich wieder so verschmitzt an. Hast den Braten gerochen und leckst dir schon Pfoten und Schnurrhaare danach. Richtig, ich konnte wieder etwas von der Tafel für dich abzweigen und in meine Tasche stecken. Meine Mutter sagt zwar immer: „Du bist viel zu mager Mädchen, aber ich habe keinen Appetit. Hier, lass es dir schmecken!“ Ein Wellensittich flog im flackernden Licht eines Fernsehers gegen die Nacht hinter der Fensterscheibe, prallte mit einem dumpfen Schlag ab und fiel in einen Blumentopf, der auf dem Fensterbrett stand. „Was soll das Gepolter? Sei leise. Du weckst noch die Krankenschwester!“ So versuchte, ob du es glaubst, oder nicht, ein einbeiniger Pflaumentoffel mit einem Wellensittich, ein Gespräch anzufangen, während Schwester Erika erschöpft in den Sessel gestreckt, ihre Nachtschicht vor dem Fernseher verschlief. „Was hockst du da so benommen zwischen den Blumentöpfen?“ fragte Bruno der Pflaumentoffel den Wellensittich Ambrösel der sich gerade aufrappelte. Keine Antwort. Ein verlegenes Schweigen. Man hörte Schwester Erika mit den Zähnen knirschen, ein paar undeutliche Worte stolperten schlaftrunken über die Schwelle ihrer Lippen. Bruno schenkte ihr wenig Beachtung. Stattdessen betrachtete er den Wellensittich, der mit dem Schnabel sein Gefieder ordnete. Plötzlich platzte Bruno los: „Du könntest dich ruhig mal mit mir unterhalten, anstatt so abwesend durch mich hindurch zu starren. Sag´ mal was.“ „Was soll ich denn sagen?“ „Na irgendwas eben, zum Beispiel, wer dir den Käfig geöffnet hat.“ „Nach dem Füttern haben sie vergessen, ihn wieder zu schließen.“ „Sehr glücklich siehst du aber nicht aus, obwohl du ausgebüchst bist.“ „Muss man denn immer glücklich aussehen?“ „Nein. Hauptsache man ist es im Herzen.“ „Da rumort die Angst, die Angst zu sterben.“ „Weißt du, in einigen Tagen wird mich das Personal gänzlich verputzt haben. Pflaume für Pflaume. Und mit jeder getrockneten Pflaume, die ich verliere, werde ich mich an die Blüte zurückerinnern, an das unruhige Insektensummen des Frühlings. Und je weniger Fleisch ich bin, desto mehr werde ich wieder Frühlingswind sein.“ „Schön hast du das gesagt, du alter verschrumpelter Schornsteinfeger. Ich könnte mich jetzt glatt in dich verlieben. Trotzdem habe ich Angst vor dem Sterben, ohne an einem Zweig in einer rauschenden Baumkrone gehangen, ohne einen Fluss gesehen zu haben. Mein Leben ist ein einziger Leerlauf. Ich dreh‘ mich um meine eigene Achse, wie ein Jo Jo – es gibt einfach nichts, nichts was sich lohnt“ „Langsam überkommt mich das Gefühl, dich schütteln und anschreien zu müssen, damit du verstehst, was du Wichtiges unter deinem Gefieder trägst. Bis zum Tod stehen dir alle Türen offen. Lasse die Dinge und vor allem dich selbst einfach zu.“ Bruno und Ambrösel verstummten, denn Frau Göpel erschien im Aufenthaltsraum. Sie hielt sich am Türrahmen fest. An der Decke über der Tür schwebten blau lasierte Schmetterlinge, die ein Patient in der Ergotherapie aus Ton geformt hatte. Transparente Schnüre verknüpften sie mit waagerecht hängenden Zweigen, die wiederum mit den gleichen Schnüren an einem Haken befestigt waren. „Schwester, liegt Frau Göpel in ihrem Bett?“ „Selbstverständlich, seit 21:00 Uhr“, murmelte Schwester Erika, übermüdet und gereizt. „Dann kann ich ja gehen.“ und während sich Frau Göpel aus der Tür drehte, fügte sie noch hinzu: „Ich fühle mich so kalt, Schwester.“ „Dann ziehen sie sich etwas über.“ Als ob es helfen würde, sich etwas über zu ziehen, wenn der Frost von innen kommt. Ein Hauch fuhr durch das Windspiel. Übermütig begannen die Schmetterlinge zu tanzen, stießen an einander und man meinte in dem Geklimper eine wehmütige Freude zu vernehmen, endlich frei zu sein. Als die Ablösung am nächsten Morgen die Tür zur Station öffnete, schwirrte ihr in einer blau schimmernden Staubwolke ein Schwarm von Schmetterlingen entgegen. „Na so was! Schmetterlinge im Winter, wo kommen die denn her?“
vom Geschichtenentdecker Georg notiert und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt