Die Luft ist feucht und kühl, der nieselgraue Morgen fühlt sich klamm an wie mein Kapuzenpulli, den ich gerade vom Wäscheständer genommen und übergestreift habe. Wie fühlt er sich für dich an, frage ich mich? Gibt es für dich einen Unterschied zwischen der Kühle des Morgens und der des Abends? Und kommt es mitunter vor, dass du an manchen Tagen überhaupt nicht munter wirst? Verkriechst du dich dann in deine Müdigkeit oder wickelst du dich in sie ein wie in eine flauschige Decke und hilfst dir mit einem Lächeln und unzähligen Tassen Kaffee über den Tag? Wie gehst du mit dir um, wenn du neben dir stehst? Blickst du dich dann von der Seite an und leistest dir Gesellschaft? Und ist dir eine Situation oder ein Mensch fremd geworden, weil beide anders sind, als du erwartet hattest? Und wie bist du mit dir und dieser Situation umgegangen? Hast du dir gedacht, dem anderen geht’s vielleicht genauso? Hast du die Angst oder das Befremden des anderen an die Hand genommen und ihr seid beide, verbunden in eurem Fremdsein neugierig auf das Unbekannte zugegangen? Oder hast du dich abgewendet und in deiner Enttäuschung verschanzt? Und findest du nicht, dass es manchmal tröstlich ist, zu wissen, was alles möglich gewesen wäre?
Auf dem Heimweg treffe ich den Straßenkehrer Hory und sage ihm, dass ich ihn neulich gesehen habe, wie respektvoll er mit den Obdachlosen umgehe, Müll und leere Flaschen einsammle und um ihr Hab und Gut herum fege, als wären sie seine Gäste auf seinem Straßenabschnitt und ihr Platz ein Zimmer, das er sauber halte. Und er freut sich über meine Beobachtung und sagt, manche Menschen hätten einfach kein Glück im Leben. Wieso solle er die anders behandeln als die, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen? Ich schaue ihm nach, wie er seinen Wagen den Gehweg entlang in den Feierabend schiebt. „Ambassador“ steht in weißen Buchstaben auf der Rückseite seiner blauen Jacke. Und das hat er wirklich, das Taktgefühl wie man es einem Botschafter wünscht.
“Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.” (Karl Valentin)
„Wieso, wenn ich jemanden nur fünf Minuten sehe, wieso die Zeit nicht nutzen, den anderen kennenzulernen? Wieso über politische Ansichten streiten? Jeder von uns bewegt sich in seiner Blase, informiert sich aus anderen Quellen.“, sagt Lin Yi. „Eine Einstellung lässt sich nicht in fünf Minuten ändern. Den anderen versuchen zu belehren, bevor du ihn verstehst, das wäre vertane Zeit. Ich traf mal eine Frau, die hatte an Joker, einen Narren gefressen. Wieso sie umstimmen wollen? Sie würde sich eh nur verschließen. Ich habe sie nach drei Punkten gefragt, wieso denke sie, der Joker von der roten Partei sei der Richtige, das Land zu regieren? Anschließend fragte ich sie, ob ich ihr drei Punkte aufzählen darf, die ich an Batman von der blauen Partei gut finde“ Und nach einer kurzen Pause fährt Lin Yi fort. „Die Menschen fühlen sich allein gelassen und denken der Joker würde ihnen zuhören und sich ihrer Probleme annehmen. Und er lügt ihnen die Hucke voll. Ich glaube er kann gar nicht anders, er muss einfach lügen.“
Die Beine angewinkelt, lehne ich mit der Wirbelsäule gegen den Türrahmen, und versuche, meine Halswirbel zu spüren. “Das Kinn noch ein ganz klein wenig Richtung Brust neigen, nicht zu sehr.” Nur den Kopf nicht hängen lassen. Yin Li packt mit ihrer rechten Hand ein Büschel ihrer Haare und zieht sie leicht nach oben, um mich an den Sky Hook, den Himmelshaken zu erinnern. Es ist gar nicht so einfach, ein ungesunde Kopf- und Körperhaltung abzulegen. Mein Rücken lehnt gegen den Türrahmen und ich blicke an den Matten vorbei zum Ausgang des Dojos. Oben rechts neben der Tür hängt eine Uhr an der Wand. Darunter ein chinesisches Schriftzeichen aus schwarzen Pinselstrichen auf Papier. Das in in der Mitte sieht wie ein Gartenzaun aus, darüber ein offenes Dach und darunter sind noch einmal vier kurze senkrechte, tropfenartige Striche gesetzt, fast wie vier Beine, auf denen sich das Zeichen fortbewegt, an der Wand entlang, täglich die Porträts der Meister grüßend, deren Reihe Anfang es bildet. Was dieses Schriftzeichen bedeute, fragte ich Yin Li das letzte Mal, als mein Blick beim Abschied auf den Bilderrahmen fiel. “Nichts.”, sagte sie und sie betonte es, als würde sie “nichts weiter, nichts besonderes”, sagen. Für einen Augenblick hielt ich inne und stutzte. Ob ich wüsste, dass die Meister ihren Schülern manchmal genau mit diesem Ausdruck antworteten? „無“ Die Antwort sei nicht zu haben, nicht in diesem Augenblick. Wären nur Worte, die wie Sand zwischen den Fingern hindurch rieseln oder zwischen den Zähnen knirschen. Einer würde das sagen und der andere das, ohne dass es ein Rolle spiele. Wieso den fünften Schritt erklären, wenn der zweite noch nicht verstanden wurde? Ja, so sind sie, die Meister, wollen sich den Mund nicht fusselig reden. Die Antwort komme zu dir, wenn du soweit bist, sagen sie. So wie die Gedanken am Morgen, die in dir aufsteigen, wenn du mit geschlossenen Augen noch ein wenig da liegst, im Halbschlaf bei dir selbst verweilst und dir lauschst, bevor der Wecker klingelt, bevor der Trott des Tages dich in seinen Bann zieht. Ich lehne am Türrahmen, mein unterer Rücken zieht, ich spüre wie das Holz gegen meine Wirbelsäule drückt und blicke wieder auf die Uhr und das Chinesische Schriftzeichen für “Nicht haben”. „Behalte die Frage. Behalte dieses Gefühl.“, sagte Kezhuan oft, als sei das Gefühl ein Kücken in der Hand, ein kleiner Vogel, der noch fliegen lernen müsse. Wieso jemanden belehren wollen, der noch nicht bereit ist? Vielleicht wird er sogar noch sauer auf dich? Für ein Weilchen überlässt mich Yin Li mir selbst, geht zu Maris, einer Schülerin die schräg hinter mir lehnt, an einem anderen Türrahmen in einer anderen Wand. „Nichts erzwingen wollen. Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht.“, sagt ein altes Sprichwort. Diese Sprichwörter haben gut reden, denke ich mir. Wahrscheinlich stecken sie mit den alten Meistern unter einer Decke. Die einen sagen nichts, die anderen wissen immer alles besser. Ist es denn wirklich so einfach wie es scheint?
PS. Hinten angehängt und empfohlen, ein kleines, gar nicht so leises Büchlein von Mely Kiyak, „Haltung / Ein Essay gegen das Lautsein“ heißt das und ist im Duden Verlag erschienen. https://shop.duden.de/Haltung/9783411717651
gleich neben dem Schuppen, wo die streunenden Katzen sich verstecken und sich die Schwarzen Witwen in schattigen Winkeln verkriechen. Und die Rine ist keine Manda sondern eine Nekta-rine. Eine Mandel-rine schon gar nicht. Im Garten blüht der Nektarinenbaum, so müsste die Überschrift lauten, würde sie ihre Aufgabe als Überschrift etwas genauer nehmen. Was uns hier so alles blüht, anfang März im Norden von Kalifornien.
Und in der kleinen grüne Vase und am Fahrrad fährt die Blüte spazieren.
Und Frances kümmert sich darum, dass die Blütenpracht drinnen weiterblüht, auf dem Fensterbrett über der Spüle in der Küche, so ist immer ein wenig Frühling dabei, wenn der Abwasch versucht, einen mürbe zu machen.
Die verlorenen Orte, die es nur noch in uns gibt, das Obdach, dass uns nur die Gegenwart eines Freundes geben kann, der das Bröckeln der Zeit, die Bewegung der Quanten für einen Augenblick stillstehen lässt, wie der Rausch den Moment dehnt, bevor er in sich zusammen bricht. Mit dem Erglimmen, dem Aufflammen der Lichter in der Dämmerung scheinen die Häuser für einen Augenblick zerbrechlich und ewig verschmolzen mit dem Zwielicht der blauen Stunde, Stuben wie in versteinerten Sand gebaut, der mit der nächsten Böe wieder lose wird und weiterzieht, verwehte Dünen des Augenblicks, von Moment zu Moment ziehend, bis die Nacht sich festgesetzt hat und die Lichter in der Dunkelheit hält, sie umarmt und endlich verschluckt. Ich fahre über den brüchigen Asphalt der Straßen und die dunklen Silhouetten der Äste versuchen vergeblich den Mond einzufangen, der vor mir wegzulaufen scheint und zu der Frage schweigt, ob je ein Mensch ihn betreten hat, weil ihm das Ego der Menschheit egal ist. Sollen sie sich doch erst einmal um ihren eigenen Kram, die Erde kümmern, bevor sie Fahne schwenkend auf seiner Nase herumtanzen und mit stolz geschwellter Brust seine Krater, Berge und Meere benennen, ihn, ihm Namen gebend, in Besitz nehmen. Eine Frau, die, in ihrer vierrädrigen Rüstung sitzend, schwungvoll um die Ecke biegt und mich fast umfährt, trägt ihr Herz auf der Zunge und fragt: „Hast du den Mond gesehen? So groß und so leuchtend rot über dem Horizont.“ Nicht hier in Barber, sondern vor zwanzig Minuten in Chapmantown. Da sei das gewesen. War es der gleiche Mond oder ein anderer? Der Mond und seine marssüchtigen Schafe, die Millionen allesmögliche in die Luft pustend, wie Halbstarke mit ihrem Moped durch ihr Viertel knattern, der Mutter Natur beweisen wollen, was sie nicht alles können, über den Himmel düsen und dabei weniger Ahnung vom Universum haben als der Schweif eines Kometen. Schwerelos in tonnenschweren Weltraumschrott. “Immer wollen sie fliehen, vor sich selbst weglaufen, ihre Spuren verwischen und gleichzeitig, sich an sich selbst erinnernd, den Spiegel bezirzend, unsterblich sein.“, denkt sich der Mond. „Wenn sie sich nicht um sich selbst sorgen… ich mache mir schon längst keine Sorgen mehr. Ich warte nur gespannt, bis der Vorhang fällt. Bis dahin schaue ich ihnen zu wie sie mit Eifer, mit weiser, allwissender Miene, den Ast absägen, auf dem sie sitzen, die Bretter zerschlagen, die ihre Welt bedeuten. Bin ich der Mond oder bist du das?“ fragt mich der Mond. „Wer ist das Ying im Yang und das Yang im Ying?“ Vielleicht sind meine Gedanken das Schneegestöber, das ich dieses Jahr, im milden nordkalifornischen Winter, vermisst habe. Und ich radel mit den Einkäufen im Rucksack nach Hause, schlingernd und holpernd, dem einen Schlagloch ausweichend, werde ich vom nächsten erwischt. „Eine gerade Naht zu nähen, dazu gehört viel Übung und die braucht Geduld.“, sagte mir heute die Schneiderin Karin A. Martin. Und die Geduld fehle den jungen Leuten, aus diesem Grund würden immer weniger das Schneiderhandwerk erlernen. Geduld an sich sei schon zur Kunst geworden. Fünfzehn Dollar würde das Kürzen und Umnähen einer Hose übrigens kosten. Mit den Berliner Preisen vergleichend, finde ich das einen fairen Deal. Ich biege in meine Straße ein, die 19th St. West, nicht die Buttmannstraße, in die ich zehn Jahre lang Tag für Tag heimgekehrt bin, nach Reisen, wohinauchimmer, auch mal nachts oder am Morgen. Die Buttmannstraße, die in den 80ern mal zur dreckigsten Straße Berlins gekürt worden sein soll, einer Legende nach habe hier, in der Kneipe Barrikade, Rio Reiser seinen Rauchhaussong geschrieben. Die Barrikade, die du aufsuchen konntest, wenn die Decke in der Küche mal wieder zu niedrig hing, das Bier alle war oder du ein Krümel Kaninchenfutter paffen wolltest, um Alice ein wenig näher zu sein. Du bist einfach schräg über die gepflasterte Straße im Schein der Gaslaternen gehuscht, geschlurft oder gewankt und hast bekommen, wonach es dich begehrte. Von einer/einem der Barkeeper/innen oder dem Dealer, der sich Ché nannte und vorn links unter dem Runden Tisch, der sein Ladentisch war, die Geschäfte abwickelte. Wer die Barrikade heute in der Buttmannstraße sucht, findet sie nicht mehr. Die Barrikade wurde nicht vom Mietenwahnsinn ruiniert, oder vom Kapitalismus über den Tisch gezogen, sondern von ihrem Kassenwart erledigt. Die Stimme der Sucht, die unstillbare Gier nach Glück, war stärker als der Chor der unbezahlten Rechnungen. Der Geruch reifer Orangen steigt in meine Nase und holt mich zurück, in die W 18th St. nach Chico, wo ich mein Fahrrad den Gehweg entlang schiebe unter den Ästen des Orangenbaumes der Nachbarn hindurch, schräg über den Rasen bis zum hölzernen Gartentor.
Ich fahre noch einmal den unbefestigten Weg entlang, der mich durch die Mandelplantage bis zu einem Haus inmitten des Blütenmeeres führt, in der Hoffnung, dort mehr erfahren zu können. Nein, sagt mir eine Frau, auf die ich in ihrem Auto vor dem Haus treffe. Wie viele Bäume diese Plantage hätte, wüsste sie nicht. Ihre Freundin, die sie besuchen wolle, wisse das, doch diese sei leider nicht daheim. Um die Situation ein wenig aufzulockern, beginne ich, von der Schönheit der Mandelblüten zu schwärmen. Die Frau erstrahlt und sagt, ja, sie sind wunderschön. Die Blüten kämen immer vor den grünen Blättern. Und die weißen Blütenblätter auf dem Boden sähen aus wie Schneeflocken. An sich seien die Bäume nicht sehr “pretty”, die Zeit der Blüte sei ihre “glory”, sagt sie und strahlt wie eine weise Fee auf dem Hochzeitsfest von Cinderella und am Horizont, gehüllt in blauen Dunst, schweigen die Berge.
Im Jahr 2022 wurden in Kalifornien über 11,27 Millionen Tonnen Mandeln geerntet.
Wäre er ein Kleidungsstück, ein Gewand aus Worten, wie würde er sich auf der Haut anfühlen, dieser Text? Wäre er ein wenig zu eng, zu weit, würde er kratzen oder zu warm sein? Legen wir bei dem Leben, das wir führen, die gleiche Sorgfalt an den Tag, wie bei den Kleidungsstücken, die wir tragen? Und wie würde sich meine Leben anfühlen, wenn ich es jeden Morgen neu anprobieren würde? Gleich als Spoiler unverfroren vorneweg: Dieser Text wird keine Fragen beantworten, höchstens aus Versehen. Oft ertappe ich mich dabei, dass ich es wie die anderen halte, anderen und mir selbst gegenüber nicht so einfühlsam bin wie der Schneider von George Bernhard Shaw. “The only man who behaved sensibly was my tailor: he took my measure anew every time he saw me, whilst all the rest went on with their old measurements and expected them to fit me.” Wieso neige ich dazu, meine Erwartungen in Sicherheit wiegen zu wollen und klammere mich an alte Maßstäbe? Mit der Luftpost von Berlin nach Chico habe ich mich in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent, in ein anderes Lebensumfeld verfrachtet, in einen neuen Kontext verpflanzt uns muss wieder wurzeln schlagen und der Schneider von George Bernhard Shawn würde zu mir sagen, nimm neu Maß von dir.
Um mich zu überzeugen, dass ich da bin, fotografiere ich mein Spiegelbild in der Scheibe eines leer stehenden Gebäudes am Straßenrand, ein schwarzer Schuhkarton aus Beton, mit großen Fenstern, einem Blechdach, fast so grün wie Kupferdächer, die Grünspan angesetzt haben, nur ein bisschen gelblicher das Grün. Auf dem Foto werde ich eins mit meiner Umgebung. Ich gleiche die beiden Bilder miteinander ab, das im Spiegel und das, was ich in mir trage. Der Georg im Spiegel sieht älter aus, ihm sprießen graue Barthaare am Kinn, er bekommt langsam schütteres Haar und einzelne graue Strähnen tauchen an den Schläfen auf. Spiegel, du musst besser auf deinen Georg achten. Jim, der plötzlich auftaucht, mich beobachtet hat, wie es scheint, fragt, ob ich mich für diese Immobilie interessiere. Und unvoreingenommen, in einem Atemzug, der den Moment auslässt, in dem Zweifel aufkeimen könnten, schiebt er gleicht die zweite Frage hinterher, was ich mit ihr vorhabe, der Immobilie. Ich wolle ein Café aufmachen, antworte ich und er ahnt langsam, dass ich nichts vorhabe. Ein Café und als Süßspeise steht “Mus au Pamphlet mit Anekdotenstreuseln” auf der Karte, denke ich mir. Vielleicht würde er es verkaufen, sagt er. Und der neue Eigentümer würde Wohnungen drauf bauen lassen, solche wie schräg gegenüber auf der anderen Seite der Park Ave. Wie es der Wirtschaft in Deutschland gehe, will er noch von mir wissen, nachdem ich ihm sage, ich käme aus Berlin. Bestehe die Gefahr, dass Russland die USA angreife, wenn diese die Ukraine mit schweren Waffen und Flugzeugen beliefern würde?, interessiert ihn noch. In meiner neuen Rolle als Korrespondent antworte, ich weiß es nicht. Gewöhnlicherweise greifen Raubtiere meist nur schwächere Beutetiere an.
Ich gehe weiter und kehre zurück zu meinen Gedanken. Das Leben ist nicht nur Malen nach Zahlen. Mögen es nun die Erwartungen anderer sein, die ich als meine eigenen verinnerlicht habe, oder Kriterien, die ich mir selbst erarbeitet habe. Wieso haben ich überhaupt die Neigung, vorgefertigten Bildern entsprechen zu wollen? Ist es vielleicht die mich lockende Belohnung, mich zugehörig fühlen zu dürfen? Und verwechsele ich dieses Gefühl der Zugehörigkeit mit dem Glück, das ich nur in mir selbst finden kann? Wieso mache ich mein Glück abhängig von anderen? Sind wir als Gesellschaft wie Pinguine, die sich gegenseitig wärmen? Will und kann ich überhaupt dem Bild, das ich mir von mir selbst gemacht habe, noch entsprechen? Bekomme ich durch das Schreiben ein Blick dafür wie ich mich verändere? Welche Wahl habe ich? Die Wahl, derjenige zu sein, der ich bin? “Be yourself; everyone else is already taken.”, schreibt Oscar Wilde. Oder ist das alles nur ein Spiel, ist meine Identität nur eine Sprache, die ich als Kind gelernt habe? Und mir bleibt nur die Wahl, welche weitere Sprache(n) ich dazu lerne und welche davon ich gerne sprechen mag? Lassen sich meine Rollen die ich spiele mit Gewändern vergleichen, die ich trage? Manche sind maßgeschneidert und andere sind fabrikgefertigte Konfektionsware? Der zu werden, der ich bin, heißt dass nicht einfach, das richtige Augenmaß für das Gewand haben, das mir gerade passt? Doch welche Gewänder stehen mir zur Auswahl?
Ich biege in die fünfte Straße ein. Auf der Rückseite des Versammlungsgebäudes des Stadtrates von Chico, das ein wenig erhöht auf einer Art Podest errichtet ist, steht ein Mann in einem lila Regencape und pinkelt genußvoll hinunter in meine Richtung, in großem Bogen, als wolle er seinen eigenen Rekord im Weitpinkeln brechen. Will er irgendeinem Bild entsprechen und wenn ja, welchem? Oder lebt er einfach? Wo soll er auch hin? Will er auf die prekäre Situation der Obdachlosen aufmerksam machen? Will er auf die sozialen Verwerfungen in Chico hinweisen, die diesem beschaulichen, landwirtschaftlich geprägten Universitätsstädtchen an manchen Ecken und Plätzen ein wenig Großstadtcharme verleihen? Müssen wir vielleicht einmal alle, wenn Petitionen nicht mehr reichen, in einem groß angelegten Flashmob, vor der Terrasse des Stadtrates, einen Wasserfall zum Sprudeln bringen? Den Verantwortlichen vor die Tür kacken? Oder wählen dann die anständigen Bürger die Grand Old Party, die bei der kommenden Wahl in den Staaten voraussichtlich mit einem altbekannten Gaul ins Rennen gehen wird, der Obdachlose und Einwanderer gegen ihren Willen in Camps sperren lassen will? Ist es jemals gelungen, Armut wegzusperren? Der öffentliche Toilettengang erinnert mich an an Berlin, wo mancher, mitten im Großstadtgewühl versteckt, einfach seinen Bedürfnissen freien Lauf lässt, ob am Alex gegen die Scheibe des S-Bahnhofs oder sonstwo, sei wer du bist. Heimatgefühle steigen in mir auf. Wie würde mein Schamgefühl sich verändern, wenn ich keine Privatsphäre, keine Möglichkeit des Rückzuges hätte?, mein Raum der öffentliche wäre, den ich gezwungen bin, mit Menschen zu teilen, die ich gar nicht kenne? An der nächsten Hauswand lehnt ein Mann und dreht sich eine Zigarette. Am Lenker seines Fahrrades hängt eine Alditüte (keine Attitüde). Ich frage ihn, ob er die sich aus Deutschland mitgebracht habe und er sagt, nein, die habe er von der Salvation Army. Vielleicht besteht unser Selbstbild aus Bruchstücken, die kaleidoskopartig immer wieder neu zusammengewürfelt werden und all die Fragen führen nur wieder zu neuen Fragen.
*Lesen auf eigene Gefahr. Der Verstand haftet für seine Gefühle.
“Bei eisiger Kälte bewegen sich Pinguingruppen in koordinierten Wellen, damit in der dicht gedrängten Gruppe auch die Tiere am Rand regelmäßig in die Mitte gelangen.” Und ich frage mich, ob wir Menschen auch so soziale Wesen sind und die am Rande der Gesellschaft die Chance bekommen, mal in der Mitte sein zu dürfen, um sich zu wärmen und durchzuatmen?
„It is not down on any map; true places never are.“ Hermann Melville
Und vielleicht hat er recht. Selbst in einer Zeit, in der die ganze Welt vermessen ist. Oder ist es vermessen, zu sagen, die ganze Welt sei vermessen und jeder Ort auffindbar? Kann ich mir nicht über GPS die Daten für meinen Standort übermitteln lassen? Überall und in Echtzeit? Bin ich es überhaupt noch, der sich orientiert? Oder verliere ich den Sinn, mich zu orientieren, mich mit meiner Umgebung auseinanderzusetzen, wenn ich mir das Suchen des Weges von Algorithmen abnehmen lasse? Werde ich verortet und widme ich mehr Aufmerksamkeit meinem Bildschirm, als der Welt, die mich umgibt? Wieso auch nicht?, denke ich mir. Aufmerksamkeitsökonomie. Mein Orientierungssinn war noch nie berauschend und wer verliert schon gerne seinen Weg? Wer sehnt sich nicht danach, das Leben abgenommen zu bekommen? Bestünde das Leben aus der Versuchung zu suchen und immer wieder neu, im Moment mit dem Moment zu entstehen, wäre das nicht anstrengend? Ist es nicht einfacher, mit leichtem Gepäck zu reisen, um den Sinn entleert, Abkürzungen nehmend und Zeit sparen, die ich Beschäftigungen widme, die mich wirklich erfüllen? Und welcher Ort hat schon die Angewohnheit, so zu bleiben, wie wir uns an ihn erinnern? Wozu dann die Mühe aufbringen, sich mit ihm auseinanderzusetzen? Geht es nicht nur um die Koordinierung der Koordinaten? Wer zu sich sagt, der Weg sei das Ziel, kommt nie an, oder?
Errol erzählt mir, wie er nach Hause kommt, den Fernseher anstellt, damals 1988, er lebt in Redding und sieht, wie der Ort, an dem er großgeworden ist niederbrennt, im TV. Diesen Moment hat er nicht vergessen. Und trotzdem, in ihm selbst, bleibt dieser Ort bestehen, allen Unwettern und Feuerstürmen trotzend, lebt er in seiner Erinnerung fort, bis andere Stürme des Vergessens ihn hinwegfegen.
Was passiert in den Bruchteilen von Sekunden, wenn mein Verstand, das Bild, das meine Augen sehen, vom Kopf auf die Füße stellt? Ich schlüpfe in meine Schuhe. Bassett, unser Kater, der sich auf dem Läufer im Korridor ausgestreckt hat, entspannt auf der Seite liegt, als würde er sich im Sand am Strand in der Sonne bräunen und nicht vor der Heizung wärmen, dreht den Kopf in meine Richtung und mauzt mir vorwurfsvoll seufzend hinterher. Was ist nun? Spielen wir noch? Er blickt mich erwartungsvoll an und ich zwinkere ihm zu und denke mir, nachher Bassett, wenn ich wieder da bin. „Ja, ja“, antwortet er mir. Wieso nachher? Du bist doch jetzt da.“
Neben dem Haus, hinter den Mülltonnen hüpft ein brauner Vogel auf den hölzernen Zaunslatten entlang, bleibt stehen, blickt mich an und ist auf den zweiten Blick schon flatternd in die Richtung der kahlen Äste verschwunden, die, fast schwarz, wie erstarrte Fangarme in den Himmel greifen. Der Wind kommt aus Nordost. Ein glänzender Morgen, ein Morgen nach durchregneter Nacht. Weiße Wolken eilen ohne Hast über das Blau des Himmels, auf dem Heimweg, wie nach getaner Arbeit, lösen sich auf, Geister, die ihren Job im Diesseits erfüllt haben. Für einen Moment verliert sich mein Blick, ankert in der grundlosen Tiefe des Firmamentes, irgendwo hinter den Wolken und die Wolken und ich wechseln die Positionen, ich, auf der Erde stehend, drehe mich an ihnen vorbei. Und ein Moment aus meiner Kindheit steigt in mir auf, warm und weich, ich liege mit dem Rücken im Gras und die Welt dreht sich an mir vorüber. Und ich lasse sie. Eindrücke vervollständigen mich, während ich durch die Straßen laufe, verbinden mich mit dem Fleckchen Erde, wo ich jetzt wohne, Chico. Wie hoch hier manche der Pinien wachsen. Mein Blick klettert ehrfurchtsvoll an ihrem Stamm hinauf und ich überlasse mich dem Staunen.
In der Luft über mir höre ich ein feines, sanft knisterndes Rauschen von Blättern. Ich drehe mich um. An einer Eiche hängt noch das trockene, im Herbst abgestorbene Laub, durch das nun der Wind fährt. Dahinter die Blätter von immergrünen Olivenbäumen. Bäume verschiedener Vegetationszonen treffen aufeinander. Ich gehe weiter, auf schlammigen Wegen die Backstreets hinter den Häusern an den Gärten vorbei. Die Obstbäume blühen fast noch unwirklich zart und flimmernd. Hühner scharren und ruckeln wie in einem Stop-Motion-Film unter einem Zitronenbaum, in diesen Ort hineinmontierte, gefiederte Urwesen, Nachfahren der Dinosaurier und die ersten Haustiere der Menschen. Gerade lese ich, die Hühner hätten Amerika schon lange vor Columbus entdeckt und seien mit Polynesiern in die Neue Welt gereist.
Auf der Brücke, die über den Little Chico Creek führt, begegne ich Errol, der, erschöpft vor sich hindösend, seinem Rausch nachspürt. Er sitzt er auf dem Asphalt, an eins der Bretter des Brückengeländers gelehnt. Ein ganz normaler Winter sei das hier, sagt er und das Wasser, geschmolzener Schnee aus den Bergen, rauscht unter uns hinweg. Im Herbst bin ich noch über die Kiesel des ausgetrockneten Flussbettes spaziert. Eine Ameise krabbelt über das rissige Holz des Brückengeländers. Ich betrachte die Schaumkronen, des unter uns entlang wirbelnden Flusses und Errol blättert in einem Magazin. Er käme aus einem kleinen Ort in den Bergen, 150 Meilen von hier und er zeigt flussaufwärts. “I grew up 150 miles that way and there is peaks 10000 and 8000 feet high, Mills Peak, Smith Peak, Beckwourth Peak and probably some more.” Und es scheint, dass der Ort sich an ihn erinnert. Und die Erinnerungen sind Punkte, Einstiche, mit denen sich das Leben an ihn heftet. Und erzählend, fährt er in Gedanken diese Orte ab, als wolle er sie auffrischen und nachbessern. Und er spricht über die Gegend, in der er aufgewachsen ist. “You know, you have Lake Tahoe. You’ve been up there? It’s beautiful. Half is in California and half in Nevada. So South, if you wanna gamble, there are Casinos. I’m not much a gambler. But once… And if you ski, I don’t ski, I tried once and lost a ski.” Und er lacht über dieses kleine Missgeschick, so als ob es gerade eben, vor einem Augenblick passiert sei, er noch, ohne den verlorenen Ski, lachend im Schnee liegt. “Have you been up on 70, Highway 70? If you have the time in the Summer time, say June, it’s a nice drive. If you’ve the money to go up Highway 70. It goes through the mountains and ends up, where I grew up, Portala, about 150 Miles from here. That’s the end of the width of the Sierra.” Als Kind sei er oft in der Bay Area gewesen, erzählt er weiter: “My mom was born down there, in San Francisco. Have you been over the Bay Bridge? It’s pretty cool. And the Golden Gate? You can walk over there. When I was a little kid, I used to love going to San Francisco cause we grew up in a little tiny town. A poor little railroad town, all people worked in the woods cutting trees. But I didn’t do either those. I was a house painter, thirty years. And then I ran out of work. There was about three feet of snow, so I came down here. You can’t work through three feet of snow. That sucks. The snow is different in this mountains. It’s wetter, more water in it. They call it Sierra Cement.” In Chico ließe es sich gut leben. Das Klima sei recht mild, es gäbe Arbeit und man finde einen Platz zum übernachten. “Staying here and there and camp, the shelters and this and that. They end a lawsuit to kick people out. But kicked out, someone else moves over where they were, so it goes on and on and on. The people, if they gonna camp out they will camp out.” Seine Großmutter sei Deutsche gewesen. Sie war sehr streng. Immer wenn der Großvater, ein Spanier, mit seinen Freunden Spanisch redete, “and she didn’t know, what they were talking about, she get angry and said: This is America. You speak English.”
Er blättert weiter in “Flea Market”, einem Magazin mit Gestaltungsideen, das dir zeigt, welche Möbel am besten zu deinem Typ passen und wie du deine Terrasse aufpeppen kannst. Er betrachtet die Fotos und sagt, das habe er von einem Freund bekommen. Ob er hier in Chico Freunde habe, frage ich ihn. “I don’t hang around with many people. I’ve some friends but over the years a lot of my friends have gone up and died.” Doch jetzt müsse weiter, sagt er. Mit seiner rechten Hand berührt er eine Mülltüte neben sich, die schon mit ein paar Aludosen gefüllt ist und sagt, die wolle er heute noch voll bekommen. Ich frage ihn, ob er das Buch haben möchte, das ich an der Straße, aus einem der öffentlichen Bücherschränke mitgenommen habe. Er lächelt kurz und sagt, er lese viel lieber Bücher als Magazine, nimmt das Buch und steckt es schnell, wie als wolle er es ja nicht vergessen und liegen lassen, in eine andere Tüte. Von diesem Autor wollte er schon immer mal was lesen. Mit etwas Mühe stellt er seine Beine auf, beugt sich nach vorn, stützt sich mit der rechten Hand ab, drückt die Beine durch und richtet sich auf. Ich verabschiede mich und er wünscht mir viel Glück und erinnert mich daran, dass ich unbedingt einmal zum Lake Tahoe fahren müsse.
„Ein Fest für´s Leben“ heißt das Buch in seiner Deutschen Übersetzung. Es stand bei uns zu Hause im Bücherregal, das ich in meiner Jugend durchstöbern durfte. Das Regal, das Buch und das zu Hause sind verloren gegangen. Wieso begegne ich jenen Straßengewächsen, zieht es mich zu den Verschobenen, Verschrobenen, an den Rand geschwemmten? Doch sind sie nicht mitten unter uns, sichtbar und allgegenwärtig?, verbessere ich mich gerade in Gedanken. Und könnte mir nicht genau das gleiche Schicksal widerfahren?, frage ich mich. Ist nicht jeder irgendwie Teil vom anderen? Ist es nicht nur mein Blick auf sie, der sie an den Rand drängt? Und ist dieses Streben, mein Wunsch unter Gleichgesinnten in meiner Blase zu verweilen, ist diese Vorstellung von meinem persönlichen Paradies einer der Gründe, wieso alle anderen, die stören, nicht dazu gehören, ausgeklammert und ausgegrenzt werden? Ist mein Verlangen nach Harmonie und Verbundenheit einer der Gründe dafür, dass es sie nie geben wird?
Hast du schon einmal bei einem Nachbarn geklingelt und nach Eiern, Milch oder Mehl gefragt? Hast du dir schon einmal von einem YouTube Tutorial zeigen lassen, wie etwas funktioniert? Hast du einmal einen Freund um Rat und Beistand gefragt, wenn du nicht mehr weiter wußtest? Und hattest du schon einmal das Bedürfnis, deine Dankbarkeit auszudrücken? Nicht viel anders ist es bei Sean. „I do it every day. And the weather today, I don‘t mind. Because the Lord touched me and I know, he is real, I know Christ is true.“ Ich bin mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Schwimmbad. Vor mir trottet eine Gestalt die verlassene Straße entlang. Welche Demonstration mag wohl heute in Chico Downtown gewesen sein, frage ich mich und lese die Wörter auf dem Pappschild: „Turn to Jesus“.
„I know he is real. I know when we die, we going to stand for the father of creation. And it´s Jesus. His name is Jesus. People don´t believe that. His name is so disregarded. And they think some kind of… whatever they think, they need to start looking into it.“, sagt Sean und der Regen prasselt auf unsere Kapuzen. „I was an alcoholic, sat in my room on my bed, just raged, so raged I said: God take away the desire to drink from me, I serve you for the rest of my life. That‘s what I said and he gave me the brightest vision. It´s very hard to describe…“.
Sich neu erfinden, wieder geboren werden, noch einmal neu anfangen, ein neues Leben im Alten, ein richtiges Leben im Falschen – wem sind diese Gedankenexperimente fremd? Und klar, hat sich jeder schon einmal Hilfe geholt oder war jemandem in Dankbarkeit verbunden. Nur würde ich mir für Sean wünschen, er würde sehen, dass all das in ihm steckt, er es alleine geschafft hat, vom Alkohol loszukommen, ohne seinen unsichtbaren Freund. Würde er doch sich selbst über den Weg trauen und an sich selbst glauben wie die Sachbearbeiterin im Bürgeramt in Berlin-Pankow. Für meine Anmeldung fragte sie mich nach meiner Religionszugehörigkeit und als ich sie fragte, an wen sie glaube, antwortet sie mir: “Ich glaube an mich selbst.” Das war vor zehn Jahren und ich finde diese Antwort immer noch stark. Neben der Sachbearbeiterin die ich im Bürgeramt traf, erinnere ich mich an Roland, dem ich draußen, vor dem großen Ziegelbau begegnete. Eins dürfe man nicht machen. Sagte er zu mir. Die Schuhe anbehalten. Er habe das nicht gewusst. Das war ein Fehler. Die Zehen werden ganz steif. Im Schuh können sie sich ja nicht bewegen. Und er schaut auf das Rosenbeet vor dem Bürgeramt. Zündet sich eine neue Zigarette am verglühenden Stummel an. Er müsse nicht mehr warten. Er sei fertig für heute. Und diesmal sogar rasiert. Sicher mache er das freiwillig. Wer ist schon so blöd und zahlt für eine Wohnung, wenn’s draußen so schön ist. “Carpe diem”, sagt er noch, nimmt einen Schluck aus seiner Flasche und geht.
“Your job is to be get touched by god.”, sagt Sean. “I´m not sure, if I’ll meet him.”, antworte ich. “Read the gospels, read the gospels. They will tell you, what´s going on. People just ladida blindly going down the road, never thinking about the Bible, ´cause it´s tragically boring, when you try to read it until you’ve been touched by him. It becomes the most amazing book there is, once you’ve been touched and you realize, how important it is. Now I’m reading the whole thing. Just read it to the end and start over.”